Kirchgassen mit Iberg und Altersheim
Grosse und Kleine Kirchgasse vereinigen sich auf dem Kirchplatz. Die grabenseitige Häuserzeile der Kleinen Kirchgasse zieht sich dann aber etwas zurückversetzt bis zum Iberg. Dieses Zurückversetzen erklärt sich folgendermassen: Das heutige Kirchenschiff wurde 1675 Richtung Südosten gebaut. Vorher war dieses um 90 Grad gedreht gegen Nordosten gerichtet. Die heutige Eingangsfront reichte damals ungefähr bis zur heutigen Umfassungsmauer gegen die Kleine Kirchgasse hin und endigte im immer noch erhaltenen Chor im Erdgeschoss des wesentlich älteren Kirchturms.
Im Gegensatz zum „Unterstädtli“ (Scheunengasse und Bruggerstrasse) fanden sich in den Kirchgassen schon seit Jahrhunderten nur wenige landwirtschaftlich genutzte Gebäude, in den Grossen Kirchgasse überhaupt keine. In diesen Gassen überwogen Handwerk und Handel sowie Institutionen der öffentlichen Hand und der Kirche. Anstelle des heutigen Rathauses stand am Kirchplatz bis ca. 1840 das Spital. Auf der andern Seite des Kirchplatzes war die Kaplanei (Kleine Kirchgasse 28) und das erste Schulhaus der Stadt (Kleine Kirchgasse 26) untergebracht. Hinter dem Kirchplatzbrunnen befand sich das städtische Schlachthaus (meist „Metzg“ genannt, heute Grosse Kirchgasse 10/12), unmittelbar daneben das Badhaus (Grosse Kirchgasse 8). Im 20. Jahrhundert siedelten sich an den Kirchgassen neben vielen kleineren Läden drei grössere Verkaufgeschäfte an: Riesen und später Säuberli (Haus Nr. 5) und Frey-Beyeler (Häuser 14/16) an der Kleinen Kirchgasse und die Haushalt- und Eisenwarenhandlung im Alten Rathaus. Alle drei Unternehmen existieren heute nicht mehr. In den beiden Gassen finden sich aber seit neuerer Zeit ein paar Dienstleistungsbetriebe, eine Sparte, die unseres Erachtens die Lebendigkeit in den alten Mauern aufwertet kann. Grössere Ladengeschäfte haben heute in Altstädten zu wenig Raum.
Während die betagten oder gebrechlichen Bürger bis 1840 im Spital Aufnahme fanden, erfüllte ab 1856 der Iberg diese Aufgabe, ab 1968 ganz in der Nähe das Altersheim im Grüt, an dessen Stelle 2005 das heutige Alterszentrum zu stehen kam.
Bemerkenswert an der Grossen Kirchgasse sind die verschiedenen Bauformen der Dächer, einerseits giebelständige Häuser (Westschweiz) und anderseits traufständige Dächer (Ostschweiz). Darin sehen wir eindrücklich die Situation Mellingens im Grenzbereich zwischen west- und ostschweizer Baukultur. Als hamonischster Strassenzug der Altstadt darf die grabenseitige Häuserzeile der Kleinen Kirchgasse bezeichnet werden. Hauszusammenlegungen fanden hier kaum statt. Hier können wir am ehesten erahnen, wie Mellingen zur Gründungszeit ausgesehen haben mag, als die Stadtherren bauwilligen Bürgern nach vorgegebenem Plan zum Bau von Häusern sogenannte Hofstätten vergaben.
Als strategischer Punkt gegen Südosten wirkte das Schlösschen Iberg und das heute nicht mehr vorhandene kleine Tor. Bemerkenswert ist der hinten durch die einzige erhaltene Stadtmauer begrenzte Ibergplatz zwischen Kirche und Iberg. An dessen Stelle breiteten sich früher der Friedhof und das Gelände des Iberg, der durch eine Mauer vom übrigen Stadtgebiet abgetrennt war, aus.
2020 Rainer Stöckli