Kürzlich wurde der Prix Courage 1998 verliehen. Er soll jene Person «ehren», die sich durch besonderen Mut ausgezeichnet hat. Unter den Nominierten befindet sich auch Rechtsanwalt Sigi Feigel, Ehrenpräsident der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, der sich durch seine
besonnenen Stellungnahmen im Streit zwischen der Schweiz und den amerikanischen Juden verdient gemacht hat. Sigi Feigel hat auch eine besondere Beziehung zu Mellingen.
(nü) Es war reiner Zufall, dass man bei der Durchsicht alter Protokolle auf die Ortsbürger-Gemeindeversammlung vom 24. November 1931 stiess und dort den Namen Leon Feigel-Kapitantschik fand, der zusammen mit seiner Frau und drei Kindern für die enorme Summe von 4000 Fr. eingebürgert wurde. Die Eltern wurden in Russland geboren und sind im Zivilstandsbuch als staatenlos bezeichnet. Ihre Kinder sind Alfred mit Jahrgang 1916,
Sigmund 1921 und Ruth 1924. Sigmund oder Sigi Feigel bestätigte die Annahme, dass er Bürger von Mellingen ist und wusste Einzelheiten über diese Einbürgerungen.
Die Familie Feigel hatte als erste jüdische Familie in Nidwalden die Niederlassung erhalten und nahm ın Hergiswil Wohnsitz. Später stellte Vater Feigel das Einbürgerungsgesuch. Der damalige Landammann kam zu ihm und riet ihm ab. Das Gesuch müsste vor die Landsge-
meinde und die Bevölkerung sei auf Juden nicht gut zu sprechen. In der Bundesverfassung von 1848 waren eben die Juden keineswegs als gleichberechtigt anerkannt! Ein Anwalt fand dann eine Möglichkeit, dass die Gemeinde Mellingen in die Lücke sprang und die Familie einbürgerte. Es brauchte allerdings einige Kniffe und die Hilfe des Kantons Aargau.
(Sigmund Feigels Wohnung befand sich an der Hauptgasse im Haus Nr. 4)
Die Juden erlebten auf Schritt und Tritt was es heisst, einer ausgegrenzten Minderheit anzugehören. Schlimmer wurde es in der Nazizeit in Deutschland und als Folge Scharen in die Schweiz emigrierten. Aber hier gab es auch verständnisvolle Bürger. Noch in der Innerschweiz kam es vor, dass die Familie Feigel Flüchtlinge versteckte. Manchmal rief der Polizeipräsident an und meldete, er müsse eine Hausdurchsuchung machen. Er schicke seine Leute in eineinhalb Stunden vorbel. So konnten die Flüchtlinge in aller Ruhe einen Spaziergang machen!
Im ersten Kriegsjahr 1939 machte Sigi Feigel nach der Kantonsschule die Rekrutenschule — trotz Dispens wegen Asthma. Er wollte nicht als feiger Jude gelten. 1949 Abschluss der Studien als Dr. Jur. Nach der Heirat übernahm der Jurist mit seiner Frau Evi Feigel-Heim die Firma des Schwiegervaters und widmete sich der gehobenen Damenkonfektion. Mit 57 Jahren begann er das Studium für sein Anwaltspatent, das er als 62jähriger abschloss. Er widmete sich besonders den Randgruppen und gründete die «Gesellschaft für Minderheiten». Er unterstützte das Antirassismusgesetz mit einer von ihm geschaffenen Arbeitsgruppe und war Gründer der Zürcher Jugendwohnhilfe. 1998 erhielt Sigmund Feigel den Ehrendoktor der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Und nun hat
der 77 Jahre alte Anwalt die «Gemeinschaft zur Unterstützung der Stiftung Solidarische Schweiz» ins Leben gerufen. An einen geruhsamen Lebensabend denkt er noch nicht!
Die Juden in Mellingen
Die Juden nahmen in der mittelalterlichen Stadt Mellingen rechtlich, wirtschaftlich und sozial eine Sonderstellung ein. Rechtlich unterstanden sie, wenigstens formell, dem Schutze des Kaisers, dem sie dafür die Judensteuer entrichteten. Wirtschaftlich waren sie auf das Geldge-
schäft beschränkt, da ihnen ein bürgerliches Handwerk verwehrt war. Sozial standen sie infolge ihres Glaubens und seinen Gebräuchen fast ausserhalb der völlig im Christentum aufgehenden Gesellschaft.
(nü) Die beiden Historiker Dr. Heinrich Rohr und Dr. Rainer Stöckli haben in ihren Publikatio-
nen über die Geschichte der Stadt Mellingen den Juden eigene Kapitel gewidmet. Es ist nicht sicher, ob es vor 1348 in Mellingen eine jüdische Niederlassung gegeben hat. Das Martyrologium von Nürnberg kennt Judensiedlungen nur in Zofingen, Aarau, Baden, Rheinfelden, Aarburg und Sursee. Diese wurden fast völlig ausgetilgt in den Verfolgungen
nach der Pest 1348/49. Sicher hat Mellingen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts Juden beherbergt. 1422 liess König Sigmund von allen Juden den «gulden Opferpfennig» eintreiben, mit Ausnahme in Zürich und Mellingen. Aber bereits 1429 liess der König den Mellinger Rat wissen, dass der Landvogt Jörg Crewel in Mellingen bei den Juden die Judensteuer eintreiben werde.
Judengeschlechter
Urkundlich erwähnt werden ım 15. Jahrhundert in Mellingen ein Jude Männlich, dessen Frau Geld für einen Jahreszins von mehr als 21Prozent ausgeliehen hatte, ferner ein Jude Schmoll, eine Falschmünzerin Margalis, ein Arzt Ysaias und ein Jude Moses. Die Juden waren ein un-
geliebtes Volk, auf die man ein besonders strenges Auge warf. Oft wegen Kleinigkeiten wurden sie vor Gericht zitiert. Darum sind ihre Namen in Urkunden erwähnt. Seit 1639 lebte der Jude Maram in Mellingen. Die neue Fachliteratur vermutet, der Mellinger Jude sei
identisch mit Maram Guggenheim von Lengnau, dem ersten bezeugten Vorsteher und Führer der jüdischen Gemeinden der Schweiz. In Mellingen betrieb Maram mit seinem Bru-der Isaak Wechselgeschäfte sowie einen schwunghaften Tuch- und Viehhandel. Ein weiterer Jude wird 1638 bezeugt. Der Jude Meier entrichtete der Stadt Mellingen eın vergoldetes Geschirr, damit er sich ein Jahr lang in der Stadt aufhalten konnte. Ein Jude Guggenheim in
Lengnau kaufte dann 1716 «aus dem Gewölbe» der Stadt Silbergeschirr für 1042 Gulden. Später erfolgten weitere Käufe durch ihn im Betrage von 1650 Gulden. Für viele Dienst-
leistungen verlangte die Stadt vergoldete Becher und Geschirr und verfügte mit der Zeit über einen reichen Schatz.
Auswanderung der Juden
Nach 1460 begegnen wir in Mellingen keinen Juden mehr. Wahrscheinlich sind sie ausgewandert, nachdem ihnen das Zürcher Gebiet für ihre Tätigkeit verschlossen blieb
und die Tagsatzung 1450 die Juden aus der ganzen Eidgenossenschaft auszuweisen beschloss. Nach einer Periode relativer Freizügigkeit verfügten 1666 beide Räte von Mellin-gen, keine Juden mehr aufzunehmen den «wil sy dussen seigen, sollent sy dussen verbliben».
Einbürgerungen von Juden gab es in Mellingen dann wieder in diesem Jahrhundert. Die unwirtlichen Zustände für Juden in Russland und den Oststaaten und die Verfolgungen in den 30er Jahren in Nazideutschland brachten Flüchtlinge ın die Schweiz. Mellingen war gerne
bereit, Einbürgerungen vorzunehmen. Mit den Einkaufssummen konnte die Stadt ihre aus dem Nationalbahndebakel stammende Finanznotlage etwas aufbessern.
Quelle: Reussbote Herbst 1998, nü
Bild-Nr.: SF001
Bild: Reussbote Herbst 1998-nü
Text: Reussbote Herbst 1998-nü
Copyright: Reussbote Herbst 1998-nü