Mellingen - Brückenort oder Grenzort, Rainer Stöckli

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Mellingen - Brückenort oder Grenzort

Lässt sich in einer Region mehr Trennendes oder Verbindendes feststellen?
ln Mellingen, als Ortschaft am viertgrössten Fluss der Schweiz, spielen beide Faktoren eine Rolle. Flüsse bilden gerne Landesgrenzen, denken wir nur an den Rhein, der heute mit Ausnahme von Schaffhausen und einem Teil von Basel-Stadt auf 140 Kilometern die Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz bildet.

Grenzort
Auch die Reuss war einst ein Grenzfluss. lm Laufe des 10. Jahrhunderts dehnte sich das Königreich von Hochburgund bis an die Reuss aus. Das Gebiet östlich des Flusses gehörte zum Deutschen Reich, konkret zum Herzogtum Alemannien, auch Herzogtum Schwaben genannt. Alle Ortschaften mit der Endung -ingen deuten auf relativ frühe alemannische Siedlungen hin. Das Dörfchen Mellingen dürfte daher etwa im 6./7. Jahrhundert rechts der Reuss entstanden sein. Somit war Mellingen-Dorf im 10. und 11. Jahrhundert wohl längere Zeil Grenzort, bis das Königreich Burgund im Zeitraum von 1032 bis 1038 dem Deutschen Reich einverleibt wurde.
Auch zwischen kleinräumigeren geografischen Gebieten war die Reuss ein Grenzfluss. Die Grenze des hochmittelalterlichen Aargaus verlief vom Alpenrand südlich des Vierwaldstättersees, der Reuss entlang bis zum Zusammenfluss mit der Aare und von dort der Aare entlang bis zum Thuner- und Brienzersee und weiter zu den Berner und Urner Alpen. Auf der anderen Seite der Reuss breitete sich der bis zum Bodensee und dem Rhein reichende Thurgau aus, von welchem wohl im 9. Jahrhundert der Zürichgau abgetrennt wurde. Noch heute bildet die Reuss im Bereich des Freiamts teilweise die Grenze zwischen den Kantonen Zürich und Aargau.

Flussübergänge
Bis heute ist die Reuss neben der Limmat der einzige grössere Fluss, der das Gebiet des Mittellands von Süden in leicht nordwestlicher Richtung durchfliesst und die Ostschweiz von der Nordwest- und Westschweiz trennt. Es drängte sich daher auf, dass für die wichtigen Handelsstrassen im Mittelland Flussübergänge geschaffen werden mussten. So führte vermutlich schon zur Römerzeit eine Strasse von Baden (Aquae) über eine Furt im Gebiet des Gruemet weiter nach Lenzburg. Über die lokalen Machtverhältnisse in unserer Gegend erhalten wir erst im 11. und 12. Jahrhundert genauere Einblicke, als die Grafen von Lenzburg und ihre Vorgänger hier immer grösseren Einfluss gewannen. 1045 wird auf der linken Reussseite in Mellingen eine Kirche im Besitz des Stifts Schänis erwähnt. Dieses stand unter dem Schutz der Lenzburger, das heisst, die linke Reussseite lag damals im Machtbereich dieses Grafengeschlechts. lm frühen 12. Jahrhundert nannte sich ein Zweig der Lenzburger als Grafen von Baden. Daraus lässt sich schliessen, dass sicher seit 1100 beide Reussseiten zum lenzburgischen Herrschaftsgebiet gehörten und, laut Vermutung des Mittelalter-Historikers Heinrich Rohr, in Mellingen eine Fähre bestand. 1173 starben die Lenzburger im Mannesstamm aus. 1178 liess das Stift Schänis seine Besitzungen durch Papst Alexander bestätigen.

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Neben der Kirche Mellingen wird neben einem weiteren Gebäude - eventuell ein Vorgängerbau des lberghofs - eine Schifflände erwähnt. Möglicherweise führte von hier aus auch eine Fähre über den Fluss. Über verschiedene Erbgänge gelangten Baden und Lenzburg sowie die Region Mellingen in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts an die Grafen von Kyburg, während das Eigenamt und Brugg sowie der Raum Bremgarten im Besitz der Habsburger waren. Deshalb ist es begreiflich, dass die Kyburger in Mellingen eine Brücke bauten und diese mit einem befestigten Markt sicherten. Wenn die Brücke auch erstmals 1253 urkundlich Erwähnung findet, wurde diese bestimmt schon beim Bau des Markts im Zeitraum zwischen 1230/40 errichtet. Diese Brücke ist der erste Flussübergang, der in Mellingen schriftlich belegt werden kann und aus wirtschaftlichen, aber hauptsächlich aus strategischen, Gründen erbaut wurde. Doch blieb Mellingen nur kurze Zeit in kyburgischer Hand. Denn bereits 1263 und im darauffolgenden Jahr starben die letzten männlichen Mitglieder des in unserer Gegend regierenden Geschlechts aus. So war es für die Habsburger ein Leichtes, das kyburgische Territorium an sich zu ziehen. Mellingen wurde dadurch ein wirtschaftlich wichtiger Flussübergang im MittelIand. Dass dann der befestigte Markt 1296 zur Stadt erhoben wurde, zeigt eindrücklich, welche Bedeutung die Habsburger, die seither ihren Hauptsitz u.a. nach Böhmen und Österreich verlegt hatten, dem Brückenort Mellingen beimassen.

Brücke zwischen Mellingen-Stadt und Mellingen-Dorf

Wie oben erwähnt, ist das Dorf MelIingen rechts der Reuss wesentlich älter als die Stadt. Bedeutsam war, dass 1364 in Mellingen-Dorf (meist Trostburger Twing genannt) die niedere Gerichtsbarkeit von den Herren von Trostberg an die Stadt Mellingen überging. Diese Siedlung mit eigenem Dorfrecht wurde im Alten Zürichkrieg (1436-1450) niedergebrannt und - wohl insbesondere auf Betreiben der Stadt - mit wenigen Ausnahmen nicht mehr aufgebaut. Ein Grossteil der dortigen Ländereien ging an die Stadtbürger über. Obwohl der Trostburger Twing weiterhin nur eine niedere Gerichtsherrschaft blieb und erst 1798 der Gemeinde zugeschlagen wurde, war dieses Gebiet für die Stadt von grosser wirtschaftlicher Bedeutung, umfasste doch das Gebiet rechts der Reuss rund zwei Drittel der heutigen Gemeindefläche und der Stadtbann bloss einen Drittel. Damit gewannen die Stadtbürger viel landwirtschaftliches Land, grosse Waldgebiete und Rebberge. Um diese bewirtschaften zu können, wäre dies ohne Brücke sehr mühsam gewesen. Auch die drei Mühlen im Trostburger Twing waren auf die Brücke angewiesen.


Bild-Nr.: 41140
Bild: Fotoarchiv Mellingen
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2022
Copyright: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2022

2022

Wenige Reussbrücken

lm 13. Jahrhundert führten nur drei Brücken zwischen dem Vierwaldstättersee und der Einmündung der Reuss in die Aare über den Fluss: ln Luzern ist bereits 1168 eine Brücke erwähnt. Um 1230 wurde die Brücke in Bremgarten gebaut, einige Jahre später folgte Mellingen. 1431 entstand eine Brücke in Gisikon und 1641 in Sins. Bis 1799 in Windisch ein weiterer Flussübergang gebaut wurde, konnten im Ost-Westverkehr praktisch nur die Brücken von Bremgarten und Mellingen angesteuert werden, um nicht relativ hohe Hügelzüge überwinden zu müssen.

Eroberung des Aargaus 1415 – neue Situation

Während rund 150 Jahren war Mellingen im habsburgischen Territorium integriert. Das änderte sich 1415 schlagartig. Einerseits wurde Mellingen wichtigster Brückenort zwischen den mächtigsten eidgenössischen Städten Zürich und Bern. Andererseits verlief hier die Grenze zwischen den ersten gemeineidgenössischen Untertanen gebieten, dem Freiamt und der Grafschaft Baden. Während Tägerig und Wohlenschwil zum Freiamt gehörten, lag Mellingen bereits im Territorium der Grafschaft Baden. Die Verwalter der beiden Vogteien - Landvögte und Landschreiber - sassen in Baden und Bremgarten. Mellingen behielt zwar praktisch die gleichen Rechte wie unter den Habsburgern. Doch die Region um Mellingen war relativ «weit vom Schuss» der Obrigkeiten. So hielten sich in der Umgegend des Städtchens oft Bettler und anderes Gesindel auf. Deshalb wurden in unserer Region nicht selten sogenannte «Bettlerjäginen» (Bettlerverfolgungen) durchgeführt. Doch durch das Überschreiten der Vogteigrenzen konnte man sich schnell der Polizeigewalt entziehen. Und auch bis zur Grenze des Berner Aargaus, z.B. nach Birrhard oder Othmarsingen, war es nicht weit.

Reformation

Da dieses Thema schon mehrfach erörtert wurde, möchte man hier nur auf die Thematik als Grenz- und Brückenort eingehen. Da Mellingen 1529 zur Reformation übergetreten war und auf Seiten der Reformierten an den Kappeler Kriegen teilgenommen hatte, wurde die Stadt 1531 zusammen mit Bremgarten und dem Freiamt von den siegreichen katholischen Orten gezwungen, zum katholischen Glauben zurückzukehren. Somit wurde zwischen den bedeutendsten Städten der Eidgenossenschaft, Zürich und Bern, ein «katholischer Keil», geschlagen. Der Brückenort Mellingen war daher in den Reformationswirren zwischen 1528 und 1712 nicht weniger als zwölfmal von Truppen besetzt. Zudem waren von den acht in Mellingen regierenden Orten die Mehrzahl katholisch: Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug standen Zürich und Bern sowie dem konfessionell gemischten Glarus gegenüber. Deshalb erlebte das Städtchen während fast 200 Jahren eine stürmische Zeit. Ruhe kehrte erst 1712 ein, als die Katholiken bei Villmergen geschlagen wurden und Mellingen sowie Bremgarten und das untere Freiamt nur noch unter der Oberhoheit von Zürich, Bern und Glarus standen. Strategisch wurde die Mellinger Brücke letztmals in der Helvetik (1798-1803) sehr bedeutsam, als die Eidgenossenschaft von Frankreich besetzt wurde und Mellingen nochmals sehr stark unter den fremden Truppen zu leiden hatte. Wegen den schweren Militärfourgons der Besetzungsmacht litt die nach den Plänen des Luzerner Werkmeisters Josef Ritter 1794 erbaute Brücke sehr stark, sodass diese Konstruktion der Brückenbaukunst 1816 durch einen Mittelpfeiler gesichert werden musste.



Bild-Nr.: 41140.1
Bild: Fotoarchiv Mellingen
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2022
Copyright: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2022

2022

Hauptstrasse Zürich - Bern

Bis Anfang des 20. Jahrhunderts führte die Hauptstrasse Zürich - Bern über die Brücke von Mellingen. Als die Autobahn A1 eröffnet wurde, übernahm jene hauptsächlich diese Aufgabe und führt wenige Kilometer unterhalb des Städtchens über die Reuss Noch heute (2022) ist aber die Strecke Lenzburg -Wohlen - Bremgarten - Mutschellen Bestandteil der Hauptstrasse Nr. 1 vom Genfersee an den Bodensee. Über Jahrhunderte war aber die Strasse über Lenzburg – Mellingen - Baden – Zürich wesentlich wichtiger. Der entscheidende Grund dafür war, dass über Mellingen nur ein Höhenunterschied von 100 Metern überwunden werden musste, über den Mutschellen 180 Meter. Für Pferdefuhrwerke und Kutschen war dies ein massgeblicher Unterschied.

ln der Zeit der Religionskriege spielte aber noch ein anderer Faktor eine entscheidende Rolle. lnsbesondere in Krisenzeiten führte die Strasse bis Bremgarten über eine wesentlich längere Strecke über das katholische Freiamt, während Mellingen nicht sehr weit von der Berner Grenze entfernt war. Dass die Strecke über Mellingen bevorzugt wurde, lässt sich auch mit Zahlen beIegen. Sowohl in Mellingen als auch in Bremgarten mussten die Fuhrleute neben dem Zoll zusätzlich das sogenannte Geleitsgeld, eine hochobrigkeitliche Abgabe, entrichten. Das Geleitsgeld war eine mittelalterliche Abgabe der Kaufleute für gewährten Schutz, das bis ins 18. Jahrhundert an die Landesherren, in unserem Fall an die acht regierenden Orte, bezahlt werden musste. Da das Einziehen dieser kleinen Summen mit der Zeit kompliziert wurde, verliehen die Orte das Geleit für einen bestimmten Betrag an den sogenannten Geleitsmann, der dann die effektiven Gelder selbst einsacken konnte. lm 17. Jahrhundert betrug die jährliche Leihsumme in Bremgarten 90 Gulden, in Mellingen 200 Gulden. lm 18. Jahrhundert wurde diese Einnahmequelle sogar versteigert. Das Geleit von Mellingen war dabei besonders begehrt und brachte den regierenden Orten bis 455 Gulden ein. Mit 100 Gulden war die Steigerungssumme in Bremgarten recht bescheiden. Für Fussgänger und Reiter war aber der Umweg über Baden nach Zürich recht gross. Diese benutzten darum den Heitersbergpass, eine damals schlecht ausgebaute Strasse. Diese führte von Mellingen nach Rohrdorf bis hinauf zum Weiler Heitersberg (Gemeinde Spreitenbach) auf 657 Metern Höhe und von dort nach Spreitenbach oder Dietikon. Diese noch heute bestehende Verbindung war auch bei kriegerischen Ereignissen ein bedeutender Übergang.

Zum Schluss noch eine gewagte Hypothese

Ob die nachfolgenden Zeilen je wissenschaftlich abgesichert werden können, ist ungewiss. Diese Geschichte hängt mit der Grenzregion Mellingens insbesondere in der Reformationszeit zusammen. Zu Beginn der 1520er-Jahre entstand in der Schweiz eine Art erste Freikirche, nämlich die Gemeinschaft der Täufer. Diese existiert noch heute in Europa aber auch in Amerika. Die einen werden Mennoniten, andere Amische genannt. Die Bezeichnung Täufer rührt daher, weil diese nur die Erwachsenentaufe als richtig erachteten. Sie lehnten die kirchlichen und teilweise auch die weltlichen lnstitutionen ab, so die Eidesablage und den Gebrauch von Waffen. Wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit wurden sie teilweise bis ins 17. Jahrhundert von beiden Konfessionen intensiv verfolgt. Weil die Täufer derart umstritten waren, hielten sie sich gerne im Raum Mellingen an den Grenzen von Freiamt, Grafschaft Baden und Berner Aargau auf, damit sie den Verfolgern entfliehen konnten. lnteressanterweise wurde der katholische Mellinger Bürger Hans Ulrich Segesser von Zürich und Bern beauftragt, die Täufer in der Umgebung des Städtchens zu verfolgen. So versammelten sich 1530 150 Anhänger dieser Gruppe im unteren Freiamt. lhr Anführer war der Aarauer Hans Pfistermeyer, den Segesser gefangen setzen und nach Bern ausliefern konnte.
Auch später ermahnten die beiden Städte die Behörden von Mellingen, ja keinen Anhängern dieser Glaubensgemeinschaft UnterschIupf zu gewähren. Wie anzunehmen ist, verliessen manche Täufer mit der Zeit die Region und liessen sich insbesondere im Bernbiet nieder. Von dort wanderten manche nach Deutschland - zum Beispiel in die Pfalz - aus. Vor einigen Monaten hatte ich Kontakt mit einer Frau aus Deutschland, die mich befragte, ob sich einst in der Gegend von Mellingen Täufer aufgehalten hätten. Als ich ihr dies bestätigte, erzählte sie mir, dass es in Deutschland recht viele Mennoniten mit dem Namen Möllinger gebe und meinte, dass diese Möllinger ursprünglich eventuell aus der Region Mellingen stammen könnten. Recherchen im lnternet ergaben, dass sich einzelne Mennoniten in den USA sogar Mellinger nennen. Wissenschaftlich ist bisher nicht geklärt, ob sich die Vorfahren dieser Möllinger oder Mellinger einstmals in der Umgebung unseres Städtchens aufgehalten haben. Wie dem auch sei, die Diskussion ist eröffnet... Denn die Geschichtsforschung ist wie ein Steinbruch, in welchem oft immer wieder Wertvolles und ErstaunIiches frei gelegt werden kann.

Rainer Stöckli



Bild-Nr.: 41140.2
Bild: Fotoarchiv Mellingen
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2022
Copyright: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2022

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