Christine Egerszegi-Obrist

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Spuren legen

Als wir am 6.7.1976 als junge Familie nach Mellingen zogen, hätte ich nie gedacht, dass ich in diesem mittelalterlichen Städtchen dank politischer Verdienste Ehrenbürgerin würde. Der Weg begann mit der Wahl in die Musikschulkommission, dann folgten Schulpflege, Grossrat, Stadtrat, Nationalrat mit dem Nationalratspräsidium und 2015 schloss ich als erste Aargauer Ständerätin meine Arbeit im Parlament ab.

lch kam zur Politik, weil ich als Leiterin der Musikschule nicht akzeptieren wollte, dass erkrankte Lehrkräfte ihre Vertretung selber suchen und bezahlen mussten. Die Bevölkerung gewöhnte sich rasch an die Frau mit dem komplizierten Namen, und der Einstieg war für mich eine solide Weiterbildung nach der Kinderpause im Beruf.

ln manchem Amt war ich die erste Frau und habe Spuren gelegt. Als ich 1989 für den Grossrat kandidierte, meinte der damalige Parteipräsident vor der Nominationsversammlung, er brauche von allen Kandidaten ein Foto mit Hemd, Krawatte und frisch rasiert. Umgehend gab ich zurück, mit den ersten beiden werde ich mich arrangieren, aber das dritte sei mir zu intim. Die Wahl gelang: lch wurde Mellingens erste Grossrätin.

Der Start im Grossen Rat war harzig. Der Lärmpegel im Saal störte mich enorm und ich hatte Mühe, dem Sitzungsverlauf zu folgen. lch wurde Mitglied der Bildungskommission und präsidierte nach 2 Jahren die Kommission zur Überprüfung der Kant. Ausgleichskasse. Das war mein erster Kontakt mit den Sozialversicherungen, die mich noch heute als Präsidentin der Eidg. BVC-Kommission beschäftigen. lm Herbst 1989 wurde ich in einer Kampfwahl in den Stadtrat gewählt und übernahm die Ressorts Schule, Kultur, Gesundheit und Soziales. Meine Kollegen gewöhnten sich schnell an die neue Stadträtin - nicht nur, weil ich ab und zu einen Kuchen zur Sitzung mitbrachte. Ich erinnere mich noch an jenes Geschäft, das meine Kollegen überzeugte, dass Frauen wichtige Erfahrungen einbringen: Wir hatten auf dem Ratstisch die Pläne für ein Mehrfamilienhaus an der Reuss. Der Bauvorsteher erklärte, dass bei dieser Hausgrösse ein Spielplatz vorgeschrieben sei. Da merkte ich an, dass wir unbedingt auch eine sichere Abschrankung zum Fluss in die Baubewilligung aufnehmen müssten, sonst könnten die Kinder den Spielplatz nicht nutzen. Darauf fanden meine Kollegen: «Die hat recht». So war es. Als Stadträtin wurde die Arbeit im Grossen Rat viel interessanter. Ich konnte Verkehrs- oder Baufragen direkt in Aarau mit der Kantonalen Verwaltung klären. Deshalb übernahm ich in der zweiten Amtsperiode das Ressort Öffentlicher Verkehr und das Präsidium der Regionalplanungsgruppe. So konnte ich mit meinen Kollegen viel zur Realisierung des S-Bahnhofes MelIingen-Heitersberg beitragen. Aber auch die Bewilligung des Fussgängerstegs hinter dem Rathaus über die Reuss geht auf diese direkte Einflussmöglichkeit zurück.


Bild-Nr.: CE010
Bild: Christine Egerszegi-Obrist
Text: Christine Egerszegi-Obrist / Mellinger Städtlichronik 2021
Copyright: Christine Egerszegi-Obrist / Mellinger Städtlichronik 2021

2021

Die Musik war immer Teil meines Lebens

lm Oktober 1995 wurde ich in den Nationalrat gewählt und entwickelte mich zur Spezialistin für Sozialversicherungen. Mir gefiel das Ringen um Lösungen in den Kommissionen. So konnte ich etwa aktiv mitwirken, dass die Ergänzungsleistungen als Anspruch in der Verfassung verankert und die Aufsicht über die Krankenkassen eingeführt wurde. Wir konnten auch die Invalidenversicherung finanziell auf sichere Beine stellen. Höhepunkt war sicher mein Jahr als Nationalratspräsidentin. Unvergesslich ist mir der festliche Empfang in Aarau und die herrliche Feier in Mellingen, bei der die Stadtmusik den Christine Egerszegi-Marsch uraufführte.
Es war eine spannende Aufgabe, den Rat mit 199 Persönlichkeiten zu leiten und die Schweiz offiziell im Ausland zu vertreten. Gut erinnere ich mich an die Zusammenkunft aller Parlamentspräsidentinnen in New York auf Einladung von Nancy Pelosi. Das Thema war: «Was können wir tun, um das Los der Kinder in unseren Ländern zu verbessern?» Die Schilderungen über jugendliche Drogenkuriere und verstossene 14-jährige Witwen erschütterten zutiefst, und ich hatte Hemmungen über unsere banalen Herausforderungen in der Schweiz zu berichten.


Bild-Nr.: CE011
Bild: Mellinger Städtlichronik 2021
Text: Christine Egerszegi-Obrist / Mellinger Städtlichronik 2021
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2021

Von 2007 bis 2015 im Ständerat


Von 2007-2015 vertrat ich den Aargau im Ständerat. Neben meiner sozialpolitischen Arbeit nahmen Verkehrs- und Energiefragen viel Raum ein, weil diese für den Aargau zentral sind. Mit den Nordwestschweizer Kollegen konnten wir einiges für unsere Kantone bewirken. Dank einem gemeinsamen Vorgehen konnten etwa der Eppenbergtunnel vorzeitig realisiert oder Agglomerationsprogramme aufgestockt werden.

Politik war für mich immer vergleichbar mit allen anderen Tätigkeiten: Soviel man sich dafür engagiert, soviel kommt auch zurück. Allerdings dauert es manchmal, bis man ernten kann. Das braucht Einsatz und Geduld. Aber es lohnt sich.
lch habe mir in jedem Amt eine gewisse Freiheit und Unabhängigkeit bewahrt. Da sind wir Frauen stark: Statt zum Golfen, wie viele meiner Kollegen, gehe ich am Samstag zum Einkaufen. Und wenn ich mit dem Einkaufswagen Schlange stehe, sage ich mir oft, was wir in Bern machen, das betrifft auch die Menschen vor mir und hinter mir.

Auch jene, die wenig Geld zur Verfügung haben. Das bringt Realität in die Entscheide. Am meisten gelernt habe ich in der Gemeindepolitik: Man wird von einer Partei nominiert, von einer Mehrheit gewählt, und nachher übernimmt man Verantwortung für alle.
Zweimal im Jahr tritt der Stadtrat vor die Gemeindeversammlung und präsentiert mit dem Budget, was er investieren will, und mit der Rechnung, was er ausgegeben hat. Die Leute sitzen im Saal, spüren ihr Portemonnaie und wägen ab, ob Kosten und Nutzen im Einklang sind. Das zwingt die Verantwortlichen zur guten Vorbereitung, zur Ehrlichkeit und Transparenz. Diese Haltung hat mir auf allen Stufen viel geholfen.
Zugegeben, nicht alles konnte ich auf die leichte Schulter nehmen: Als ich verantwortlich war für den Umbau der Stadtscheune in ein Kulturzentrum mit Kulturschutzgüterraum, Bibliothek, Ausstellungsräumen und Ortsmuseum, senkte sich 10 Wochen vor der Einweihung das Dach des 700-jährigen Gebäudes um 12 cm. Der Grund waren Spannungen durch die Winterkälte zwischen den verbleibenden und den ersetzten Dachbalken. Im Lokalblatt stand dann, das komme halt so, wenn die Präsidentin der Baukommission eine Französischlehrerin sei. ln solchen Situationen half mir mein Humor, den Ärger wegzustecken, und der optimistische Rat meiner Grossmutter: Morgen kommt wieder eine Zeitung heraus.

lch habe in der Politik schnell gelernt, dass auch Männer scheitern. Manchmal muss man zufrieden sein, dass man gekämpft hat. Man kann nicht immer gewinnen. lch bin aber überzeugt, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder man macht selber Politik, oder es wird Politik mit einem gemacht. Das erstere ist viel interessanter. Man kann es aber nie allen recht machen, denn, wer sich nach allen Seiten verneigt, stösst mit dem Hintern überall an.
Politik ist spannend. Doch es braucht dazu eine harte Schale, damit der Kern weich bleibt. Und das muss er, sonst verliert man Lebensqualität. lm Rückblick kann ich sagen: Das ist mir gut gelungen.

Christine Egerszegi-Obrist, Mellingen






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Die Musik war immer Teil meines Lebens

Die Musik war immer Teil meines Lebens. Die Einführung eines Verfassungsartikels «Jugend und Musik», analog zum bestehenden «Jugend und Sport», war für mich eine Herzensangelegenheit, für die ich 7 Jahre lang kämpfte. Mit Hilfe sämtlicher Musikverbände der Schweiz gelang es 2012 in einer Volksabstimmung, «Jugend und Musik» in der Bundesverfassung zu verankern. Seither haben zehntausende Kinder und Jugendliche Musik-Kurse und Musik-Camps besucht. Das Förderprogramm funktioniert wie Jugend- und Sport-Aktivitäten. lnzwischen hat sich auch Liechtenstein dem Programm angeschlossen.


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