1637 Anna Maria Schnyder - Mellingerin kämpfte sich durch ihr Leben, Rainer Stöckli

Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991

Mellingerin kämpfte sich durch ihr Leben

Anna Maria Schnyder, Äbtissin von Gnadenthal von 1597 - 1637

Für den Historiker ist es oft nicht leicht, aussagekräftige Hinweise über das Wirken der Frauen in früheren Jahrhunderten in den Geschichtsquellen zu finden. Sicher hatten diese in den Familien und in der Gesellschaft oft recht grossen Einfluss. Darüber erfahren wir aber in Urkunden und Protokollen relativ wenig. Doch ausgerechnet die älteste Urkunde, die im Stadtarchiv Mellingen liegt, ist einem Frauenthema gewidmet. Ausgestellt wurde dieses in lateinischer Sprache geschriebene Dokument von Herzog Albrecht von Österreich, dem späteren König Albrecht, am 7. März 1295 in Wien. Weil der Mellinger Schultheiss Hugo von Schänis und seine Frau Heilwig keine männlichen Nachkommen hatten, sondern nur drei Töchter, erteilte der Herzog das Privileg, dass auch diese erbberechtigt seien und nicht nur die männlichen Nachkommen. Allerdings hatte dann dieses Privileg keine Wirkung. Denn alle drei Töchter traten in ein Kloster ein: Verena und Margaretha in Selnau (bis zur Reformation ein Zisterzienserinnenkloster in der heutigen Stadt Zürich) und Ita in Gnadenthal. 1313 gaben Hugo von Schänis und seine Ehegattin bekannt, dass nach ihrem Tod ihr gesamter Besitz für die Errichtung und den Betrieb eines Spitals in Mellingen verwendet werden müsse. Den drei Töchtern in den Klöstern gestanden sie einen Zins von je 4 Mütt Kernen zu, d.h. jeder ungefähr 280 Kilogramm Getreide pro Jahr. Doch wurde in der Spitalgründungsurkunde festgehalten, dass nach dem Tod der drei Klosterfrauen diese Zinsen ebenfalls dem Spital zugute kämen. Wie wir aus diesem Beispiel ersehen, traten damals und auch später, recht viele Bürgerstöchter in Klöster ein. So sind uns in den ersten Jahrzehnten, nachdem Mellingen ca. 1240 befestigter Markt und 1296 eine Stadt wurde, bis ins Jahr 1329 nicht weniger als 11 Bürgerinnen namentlich als Klosterfrauen bekannt, davon sechs im nahegelegenen Zisterzienserinnenkloster Gnadenthal. Auch in späteren Jahrhunderten entschlossen sich immer wieder Mellingerinnen als Nonnen in das an der Reuss gelegene Klösterlein einzutreten. Ein gewichtiger Grund war, dass Mellingen 1441 mit Gnadenthal ein sogenanntes Burgrecht schloss, d.h. dass die Nonnen gewissermassen auch Bürger von Mellingen waren und den Schutz der Stadt genossen. Zwei Bürgerstöchter brachten es sogar an die Spitze des Konvents. Über Priorin Maria Bernarda Hümbelin (1755-1847), die 52 Jahre dem Kloster vorstand, wurde bereits in der Städtlichronik 1991 (S. 59 -62) berichtet. Dieser Beitrag widmet sich dem teilweise schwierigen Leben von Äbtissin Anna Maria Schnyder (+1637).

Anna Maria Schnyder - ihr Lebenslauf im Überblick
Anna Maria Schnyder wurde als Tochter von Johann Rudolf Schnyder und Adelheid Seiler in Mellingen geboren. lhr genaues Geburtsjahr kennen wir nicht, doch dürfte Anna Maria um 1560 zur Welt gekommen sein. lhre Profess (Ordensgelübde) als Nonne von Gnadenthal legte sie unter Christoph Silberysen, dem Abt von Wettingen, ab. Denn alle Frauenklöster unterstanden einem Männerkloster des gleichen Ordens, Gnadenthal also der Zisterzienserabtei Wettingen. Von 1597 bis 1637 wirkte Anna Maria als Äbtissin des Klosters Gnadenthal. Die ersten zwei Jahre amtete sie vermutlich nur als Stellvertreterin ihrer betagten Vorgängerin Anna Maria Wegmann, die 1597 letztmals als Klostervorsteherin erwähnt wird, aber erst 1608 verstarb. Anna Maria Schnyder erscheint 1599 erstmals als Äbtissin in den Akten. Das einschneidendste Ereignis ihrer Amtszeit war der Brand des Klosters 1608. Ein Grossteil der Gebäude samt Kirche wurde ein Raub der Flammen. Unter ihr wurden im Laufe der Jahrzehnte die Klostergebäude wieder aufgebaut.
Weitere Angaben über dieses Ereignis finden sich weiter unten. 1620 stiftete Anna Maria ein Glasgemälde (s. Abbildung) in den Kreuzgang der Vaterabtei Wettingen. Diese Glasscheibe gelangte nach der Aufhebung des Klosters Wettingen 1841 nach Aarau und im 20. Jahrhundert ins Historische Museum Aargau. 1625 erhielt die Äbtissin die Erlaubnis, im Kloster eine Rosenkranzbruderschaft zu gründen und einen entsprechenden Altar in der Kirche errichten zu lassen. 1628 wollte Abt Peter ll. Schmid von Wettingen Anna Maria wegen Misswirtschaft und Altersgebresten von ihrem Amt entheben, drang aber nicht durch. Offenbar konnte die Äbtissin danach mehr oder weniger unbehelligt wirken, zumal ihr grösster Widersacher, Abt Peter ll. Schmid, 1633 verstarb. Noch zwei Jahre vor ihrem Tod schenkten die Räte von Mellingen der Äbtissin für Umbauarbeiten
mehrere hundert Ziegel und eine grössere Menge Kalk, weil «das ... gotshuss Gnadenthal gegen uns verburgeret» sei. Hochbetagt starb Anna Maria am 28. Februar 1637.




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Bild: Museum Aargau, Sammlung, Inv. Nr. 5-3
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2021
Copyright: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2021

1637

Stadtschreiber Anton ll. Schnyder von Mellingen als Retter in der Not

Wie oben vermerkt, verlangte 1628 der gestrenge Wettinger Abt Peter ll. Schmid die Absetzung von Anna Maria. Doch liess sich dies Anton ll. Schnyder (ca.1580-1629) nicht gefallen, dass seiner Verwandten in Gnadenthal eine solche Schmach widerfahre. Deshalb verfasste der Stadtschreiber eine ausführliche Verteidigungsschrift zugunsten seiner Verwandten, welche er dem Landschreiber der Freien Ämter, Beat ll. Zurlauben, zuhanden der Schirmorte des Klosters (LU, UR, SZ, UW, ZG) zustellte. Zurlauben ist es denn auch zu verdanken, dass über den Fall «Anna Maria Schnyder» sechs, teilweise sehr interessante, Dokumente im Archiv der Zuger MagistratenfamiIie erhalten geblieben sind. Diesen Texten ist folgendes zu entnehmen: Auch der damalige Landvogt der Freien Ämter, der Nidwaldner Niklaus von Deschwanden, setzte sich wie Zurlauben für die Sache der Äbtissin ein. Vor allem die Regierung von Luzern wollte aber gegen Anna Maria Schnyder vorgehen. So beschwerten sich Schultheiss und Rat bei den Behörden von Mellingen, dass ihr Stadtschreiber sich in Luzern aufgehalten und einen Teil der Verteidigungsschrift vorgetragen habe. Luzern ersuchte daher Mellingen, das «stäthe hin und här vagieren» des Stadtschreibers zu unterbinden. Dass Luzern sich gegen Äbtissin Anna Maria stellte, hatte seinen Grund wohl u.a. darin: Eine Nonne von Gnadenthal, die Luzernerin Anna Maria Knab, entwich damals aus dem Kloster und beklagte sich in ihrer Heimatstadt über ihre Vorgesetzte.
Diese aufmüpfige Nonne war eine Tochter des sehr streitbaren Luzerner Ratsherrn Jost Knab.

Nun zurück zur Verteidigungsschrift des Stadtschreibers: Der ausführliche Text bringt den Leser oft zum Schmunzeln. Wir müssen annehmen, dass dieser Bericht in manchen Teilen sehr subjektiv formuliert und vielleicht nicht in allen Fällen absolut wahrheitsgetreu ist. Trotzdem seien hier einige Passagen erwähnt, die rührende Zeichen tiefer Verbundenheit des Stadtschreibers mit seiner Verwandten in Gnadenthal sind. Die Amtszeit des Stadtschreibers dauerte aber nicht lange: Er trat 1623 seine Stelle an. Bereits am 30. August 1629 raffte ihn die Pest dahin.


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Bild: Denkmalpflege Aargau
Text: Rainer Stöckli /Mellinger Städtlichronik 2021
Copyright: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2021

1637

Der Brand des Klosters vom 14. Oktober 1608

Rund 10 Jahre im Amt, traf Anna Maria Schnyder ein schwerer Schicksalsschlag. Praktisch das ganze Kloster mitsamt der Kirche und dem Archiv wurden ein Raub der Flammen. Wohl wurde dem Kloster durch Geldbeiträge – sogenannte Brandsteuern - und Materialspenden unter die Arme gegriffen. Doch Äbtissin Anna Maria musste sich - mit Unterstützung des Abtes von Wettingen - hauptsächlich um den Wiederaufbau kümmern. Ohne hier auf baugeschichtliche Einzelheiten einzugehen, wurden bis 1616 die - allerdings später erweiterte und barockisierte - Kirche, der Konventsflügel im Westen, der Reussflügel im Norden und der Kreuzgang wieder instand gestellt und sind noch heute in dieser Form mehr oder weniger erhalten. An der Ostseite des Kloster-lnnenhofs ist ein Relief von 1616 u.a. mit den Wappen der Bauherrin Anna Maria Schnyder (s. Abbildung im obstehenden Teil) angebracht. Die Beichtiger in Gnadenthal waren Wettinger Mönche, welche die Klosterfrauen seelsorgerisch betreuten (u.a. Messe zelebrieren, als Beichtvater wirken). Die von den eidgenössischen Orten für den Kreuzgang gespendeten Glasgemälde sind nicht mehr erhalten. In seiner Verteidigungsschrift von 1628 schrieb Stadtschreiber Schnyder, beim Brand seien
wichtige Rechnungsdokumente vernichtet worden. Doch hätte die Äbtissin dank ihrem phänomenalen Gedächtnis alle Schuldposten auswendig gewusst. So sei dem Kloster wenigstens in dieser Hinsicht kein Schaden erwachsen. Mit grossem Fleiss habe sie den Wiederaufbau vorangetrieben und seither viele Renovationen vornehmen lassen. Schliesslich - so klagte der Stadtschreiber - habe Abt Peter Il. verlangt, zusätzlich einen teuren Neubau zu erstellen. Doch habe sich die Äbtissin, angesichts der angespannten finanziellen Lage des Klosters, erfolgreich gegen dieses Ansinnen gewehrt.

Misswirtschaft
Als wichtigen Grund für eine Absetzung nannte der Wettinger Abt die Misswirtschaft, welche die Äbtissin betreibe. So wurde ihr vorgeworfen, viele arme «Freunde» von Mellingen zu unterstützen.
Das stimme nicht, argumentierte Anton II. Schnyder. Einzig die Schwester der Äbtissin und deren Tochter weilten im Kloster. Erstere wirke im Kloster als Schweineköchin und erhalte keinen höheren Lohn als alle andern Klosterangestellten. Auch das Gerücht, das Kloster habe mehrere Tausend
Gulden Schulden, erklärte der Stadtschreiber als unrichtig. In Wirklichkeit seien bloss 300 Gulden Schulden ausstehend. Zudem habe Anna Maria noch 130 Mütt Kernen einzuziehen. lm Übrigen sei noch das ganze Jahreseinkommen, das auf Martini (11. November) als üblichem Zinstag fällig werde, ausstehend. Im Weiteren gab Anton ll. zu bedenken, dass sich bei Beginn der Amtszeit von Anna Maria bloss 3 oder 4 Nonnen im Kloster aufgehalten hätten. Dank dem vorbildlichen Engagement der Äbtissin zähle der Konvent nun 17 Klosterfrauen. So sei es nicht verwunderlich, dass nun bei derart vielen Nonnen weit mehr für deren Unterhalt ausgegeben werden müsse.

ln der Amtszeit Anna Marias weilten auch zwei Mellinger Bürgerinnen im Kloster, nämlich Priorin Ursula Zumstein (+1642) und Verena Küng (+1634), beides Töchter von Ratsherren.

Unzurechnungsfähig
Schliesslich werde der Äbtissin vorgeworfen, sie sei «in der Kinderstatth», d.h. nach heutigen Begriffen dement. Der Stadtschreiber vermerkte hiezu, Anna Maria sähe so unverbraucht wie eine 40-Jährige aus. Doch ist anzunehmen, dass die Angeschuldigte 1628 sicher weit über 60-jährig war. Offenbar wollte man die Äbtissin absetzen und eine neue Vorsteherin wählen. Anna Maria sollte aber weiterhin ihrer Nachfolgerin mit Rat und Tat beistehen. lronisch gab der Stadtschreiber zu bedenken, dass sie als Beraterin einer neuen Äbtissin doch kein Kind sein dürfe.

Weinberg
Dass Anna Maria das Heu mit dem Abt von Wettingen nicht auf der gleichen Bühne hatte, ist auch aus folgender Episode ersichtlich: Als Peter II. Schmid längere Zeil im Thurgau weilte, liess die Äbtissin ungefragt einen eigenen Weinberg anlegen. Denn bis anhin durfte Gnadenthal den Wein nur von Wettingen beziehen, was grosse Kosten verursachte. Dank dieses Rebbergs - so rechnete Anton II. vor – könne nun das Kloster bei guter Ernte den Weinkonsum für ein halbes Jahr decken, bei schlechter Ernte sicher ein Vierteljahr.

Tapfere Vorfahren
Da die katholischen Innerschweizer Orte zwischen dem Abt von Wettingen und dem Kloster Gnadenthal vermitteln mussten, konnte Anton II. Schnyder nicht genug tun darauf hinzuweisen, wie sich die Vorfahren der Äbtissin für die katholischen lnteressen eingesetzt hatten. So schreibt er in seinem Bericht, dass deren Vater - vermutlich war es aber eher der Grossvater - auf der Seite
der Katholiken in die Schlacht von Kappel gezogen sei. Und als Mellingen und Bremgarten 1529 zum reformierten Bekenntnis übergetreten seien, habe der Vater von 11 Kindern sein Haus abgeschlossen, an der Türe ein Luzerner Wappen angebracht und sei mit seiner Familie fortgezogen. Als dann Mellingen
1531 wieder zum katholischen Glauben zurückkehren musste, sei der Vertriebene wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt und habe sein Haus total ausgeplündert vorgefunden. Schnyder habe sich darauf bei den katholischen Orten beklagt. Diese hätten dann dem verarmten Mann versprochen, seine Kinder in Klöstern oder anderswo unterzubringen.

Mächtige geistliche Lobby
Bisher konnten keine weiteren Hinweise gefunden werden, weshalb Anna Maria Schnyder im Amt bleiben konnte und den Forderungen des Abtes von Wettingen nicht stattgegeben wurde. Es ist aber nicht auszuschliessen, dass die zahlreichen Geistlichen und Nonnen aus der Familie Schnyder hier ihren Einfluss geltend gemacht hatten. Nicht umsonst nennt Stadtschreiber Schnyder mehrere Verwandte aus seiner Familie: Johann Heinrich Schnyder (+1638), langjähriger Prior der Abtei Wettingen; Andreas Schnyder (+1649), Mönch in Muri; Edmund Schnyder (1606-1677), Mönch in Sankt Urban und später Abt dieses Klosters; Kapuzinerpater Andreas Schnyder, Johann Schnyder (1565-1639), Doktor der Theologie, Autor, Pfarrer von Baden und erster Propst des dortigen Chorherrenstifts. Ob diese Geistlichen aus Anna Marias Verwandtschaft sich für die Äbtissin einsetzten, ist nicht bekannt. 1632 ergriff aber Anna Maria selbst die Initiative, um sich zu rechtfertigen. So ordnete auf ihre Bitte hin der Generalabt der Zisterzienser an, die Äbte von Hauterive und St. Urban sollten in Gnadenthal eine Visitation durchführen, das heisst diese hatten zu untersuchen, ob das Leben im Kloster und dessen Finanzen zu keinen Klagen Anlass gäben. Wie es scheint, fanden die beiden Prälaten alles in Ordnung. Jedenfalls blieb Anna Maria, bis zu ihrem Tod im Jahre 1637, unbehelligt im Amt.


Quellen und Literatur:
- Die Urkunden des Klosters Gnadenthal, S. Vll, X, Urk. 212
- Eidg. Abschiede, Bd. Vl, 1487; Bd. V2, S. 24f, 1715f
- Felder P. Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau, Bd. lV
- Helvetia Sacra lll/3. Bern 1982, S. 729, 736f
- Hoegger P. Glasmalerei im Kanton Aargau. Kloster Wettingen, S.289, 436
- Sammlung Zurlauben. Acta Helvetica. Bd. 23, AH 23/161 - 166
- Stöckli R., Geschichte der Stadt Mellingen ... S. 65, 121f, 326
- Zenklusen L., Das ehemalige Zisterzienserinnenkloster Gnadenthal. Bern
2002.



Bild-Nr.: 41132.2
Bild: Reusspark Gnadenthal
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2021
Copyright: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2021

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