2020 Die Vergangenheit freiwillig erforscht. Rainer Stöckli
Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991
Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991
Bild: Titelblatt der von Konrad Kunz 1915 herausgegebenen 41-seitigen Schrift »Aus MelIingens Vergangenheit» .
Wenn auch heute vielfach die Meinung vorherrscht, wir Menschen sollten lieber im Heute leben und in die Zukunft blicken, erfasst wohl fast jeden Menschen in gewissen Lebensphasen das Bedürfnis in die Vergangenheit zu schauen: Wie lebten meine Eltern und Vorfahren? Welche Probleme bewegten die Bewohner unserer Gemeinde vor hundert Jahren? Allgemein stellt man fest, dass das lnteresse an der Vergangenheit etwa mit 60 Jahren zunimmt. Nicht selten werden dann - völlig freiwillig - Stammbäume erstellt oder in alten Schachteln, die vergiIbte FamiIienpapiere enthalten, gestöbert.
Seit rund 130 Jahren wurden Geschichtswerke teilweise im Auftrag von Gemeinden, Kantonen und andern lnstitutionen verfasst. Die Autoren wurden also entlöhnt. ln grösseren Städten betreuten fest angestellte Fachleute Museen und Galerien. Doch Mellingens Geschichtsschreibung und Kulturpflege beruht bis heute fast ausschliesslich auf Freiwilligkeit, hie und da abgegolten durch eine gewisse Anerkennungssumme. Berücksichtigt werden im nachfolgenden Überblick nur verstorbene Persönlichkeiten.
Das Mellinger Geschlechterbuch
Johann Christian Gretener (1770-1829) ist der erste uns bekannte Mellinger Bürger, der sich intensiv mit Mellinger Geschichte befasst hat. Er wirkte von 1804 bis 1824 als Pfarrer von Mellingen und danach als Chorherr von Zurzach. Nebenbei schuf er auf 450 grossformatigen Seiten Stammtafeln von über 70 Mellinger Familien. Darin finden sich Angaben über zahlreiche Einzelpersonen, die als Bürger oder Einwohner im Städtchen lebten. ln diesem Folianten hielt er die wichtigsten Lebensdaten (Geburt, Ehe, Tod) von mehreren tausend
Einwohnern fest. Sofern vorhanden, fügte er auch deren Eltern, Ehegatten und Kinder an. Als Grundlage dienten Gretener hauptsächIich die Tauf-, Ehe- und Totenbücher, die jeder Pfarrer führen musste, sowie die Jahrzeitenbücher. ln letzteren wurde eingetragen, für welche Personen oder Familien an welchem Tag jährlich eine Jahrzeit, d.h. eine Messe für deren Seelenheil zelebriert werden musste. Allerdings ist das Geschlechterbuch in lateinischer Sprache verfasst und nur als Manuskript vorhanden. Es reicht bis ins Jahr 1824, als Gretener Mellingen verliess. Dieser Band ist als Leihgabe des Pfarrarchivs im Stadtarchiv untergebracht.
Theodor von Liebenau (1840-1914)
Wenn auch dieser überaus fleissige Historiker von 1871-1914 Staatsarchivar von Luzern war, darf seine Geschichte von Mellingen als Freiwilligenarbeit gewertet werden. lm über 320 Titel umfassenden Werkverzeichnis Liebenaus finden sich neben zahlreichen Luzerner Themen auch recht viele Publikationen, die andere Kantone oder die ganze Eidgenossenschaft betreffen. Letztere
wurden also auf freiwilliger Basis verfasst. Bereits 1884 erschien auf beinahe 100 Druckseiten eine Ortsgeschichte von Mellingen, die bis ins Ende des 18. Jahrhunderts reicht.
Noch wertvoller sind auf weiteren 100 Seiten 605 Regesten (Dokumentenzusammenfassungen) über die Geschichte unseres Städtchens. Dank dem immensen Wissen dieses Historikers fanden so auch Texte, die Mellingen betrafen aber aus anderen Archiven stammten, Eingang in diese Regestensammlung. Dank Liebenau erhielt Mellingen - wenn auch in knapper Fassung - eine der ersten wissenschaftlich fundierten Ortsgeschichten im Aargau.
Konrad Kunz (1871 -1923)
lm Gegensalz zum überaus produktiven Theodor von Liebenau und dem nächst genannten Walther Merz, der angesichts seines enormen Arbeitspensums als Oberrichter und Historiker über eine sehr robuste Gesundheit verfügen musste, war dies bei Konrad Kunz, Kaplan von Mellingen von 1919-1923, im psychischen und physischen Bereich gar nicht der Fall. So war es für ihn ein Graus, wenn ihn der damalige Pfarrer immer wieder beauftragte, die Sonntagspredigt zu halten.
Umso mehr freute er sich, in aller Ruhe in den Akten des Stadt- und des Pfarrarchivs zu stöbern. Konrad Kunz veröffentliche 19 grössere und kleinere Publikationen zur Geschichte von Mellingen. Eine wichtige Grundlage zum letztjährigen Artikel in der Städtlichronik über das Söldnerwesen bildete das 1913 erschienene Werk «Die bedeutendsten Geschlechter Mellingens bis zum Jahr 1850».
Walther Merz (1868-1938)
war promovierter Jurist und hauptberuflich von 1900 bis 1930 Oberrichter des Kantons Aargau. Dass sich aber von ihm im Katalog der Aargauer Kantonsbibliothek über 250 Einträge grösstenteils zu geschichtlichen Abhandlungen und Büchern finden, erfüllt uns mit Erstaunen. So verfasste der aus Menziken Gebürtige zahlreiche rechtsgeschichtliche Arbeiten und Archivverzeichnisse. Auch Mellingen profitierte vom Wirken des Oberrichters.
1915 erschien auf 220 Druckseiten das «Stadtrecht von Mellingen», d.h. die meist buchstabengetreue Abschrift von 115 Texten, welche das rechtliche Leben der Stadt regelten. Sehr verdienstvoll ist zudem, dass dieser 1917 auch die Akten des Stadtarchivs Mellingen bis 1802 ordnete. An diesem Verzeichnis musste bis auf den heutigen Tag nichts geändert werden. Damit konnten die Bestände des Stadtarchivs wesentlich leichter durchforscht werden.
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Bild: Titelblatt von Konrad Kunz
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2020
Copyright: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2020
war jene Persönlichkeit Mellingens, die sich sehr weitgefächert mit der Vergangenheit unseres Städtchens befasste. Als Redaktor des »Reussbote" und Druckereibesitzer bemühte er sich stets, historische Texte in der Zeitung zu veröffentlichen oder Bücher zur Geschichte der Stadt im eigenen Betrieb zu drucken. Von seiner persönlichen Hand erschien 1935 die Festschrift zum
75Jahr-Jubiläum der Stadtmusik «Von den Stadtpfeifern zur Stadtmusik». Als langjähriger Dirigent lag ihm diese Publikation sehr am Herzen. Von 1942 bis 1953 wirkte er als Vizeammann und betreute das Bauwesen. Dank seinem Engagement erhielt der 1902 ausgebrannte Hexenturm 1951 wieder sein ursprüngliches Spitzkegeldach. 1953 wurde der Zeitturm umfassend restauriert. Dabei wurde die aus dem 16. Jahrhundert stammende astronomische Uhr rekonstruiert. lm zweiten und dritten Geschoss richtete dann Albert Nüssli ein kleines Ortsmuseum ein und liess Gestelle und Schränke einbauen. Zahlreiche Exponate, die bisher im Rathaus lagerten, wurden nun für die Öffentlichkeit zugänglich. Zudem Iagerte Albert Nüssli die Archivalien des 19. Jahrhunderts im Turm ein. Nachdem er 1961 Zeitungsverlag und Druckerei seinem Sohn Adolf übergeben hatte, weilte Albert Nüssli viel in «seinem» Museum und Archiv, stellte Forschungen für lnteressierte an und publizierte viele Erkenntnisse im «Reussbote». Im Weiteren ordnete er auch das Archiv der katholischen Kirchgemeinde. Albert Nüssli war aber auch ein echter Mäzen. Bei Antiquitätenhändlern erwarb er mit eigenen Mitteln verschiedene Kulturgüter zur Geschichte Mellingens, so das Glasfenster des Dekanats Mellingen von 1623, das heute das rechte Chorfenster der Stadtkirche ziert. Auch der 1904 von der Gemeinde an einen Privatmann veräusserte sogenannte Zwinglibecher kaufte er in den 1930er-Jahren zurück. Als die Stadtkirche von 1970 bis 1972 umgebaut wurde, rettete Albert Nüssli die vom Mellinger Kunstmaler Johann Georg Widerkehr geschaffene Totenfahne aus einer Schuttmulde. Alle drei hier genannten Objekte schenkte die Erbengemeinschaft Nüssli an die katholische Kirchgemeinde bzw. an die Gemeinde Mellingen zuhanden des Ortsmuseums, in welches 1997 auch die im Zeitturm ausgestellten Exponate transferiert wurden.
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Bild: Mellinger Städtlichronik 2020
Text: Rainer Stöckli /Mellinger Städtlichronik 2020
Copyright: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2020
Heinrich Rohr (+1994) und Heinrich Zumstein (1912-1989)
Dissertationen sind in den meisten Fällen ebenfalls Freiwilligenarbeiten. So schrieb der gebürtige Lenzburger Heinrich Rohr die Doktorarbeit «Die Stadt Mellingen im Mittelalter». Diese erste universitär approbierte geschichtliche Publikation über Mellingen erschien 1948. Eine Auftragsarbeit war allerdings sein
1960 erschienener Band «Urkunden und Briefe des Stadtarchivs Mellingen bis zum Jahr 1550». Dieses Quellenwerk ist mit hervorragenden Registern versehen.
Als Gärtnermeister Heinrich Zumstein sich von seinem Beruf zurück zog, wollte der Mellinger Bürger trotzdem nicht untätig bleiben, sondern wandte sich der Geschichte seiner Familie zu. Er publizierte 1985 auf über 400 Seiten die Stammtafeln aller Familien mit dem Namen Zumstein in der ganzen Schweiz. Darauf befasste sich Zumstein - gesundheitlich schon angeschlagen - mit der Geschichte seiner Heimatstadt. 1989 erschien auf beinahe 400 Seiten das
Werk: «Ein Stadt in sin Zyt. Mellingen 1700-1900." Für jeden Autor ist es ein grosses Glücksgefühl, sein neustes druckfrisches Werk in Händen zu halten. Heinrich Zumstein war dies leider nicht vergönnt: Er verstarb wenige Wochen, bevor sein Buch die Druckerei verliess. Der Vollständigkeit halber sei hier die Dissertation des Verfassers dieser Zeilen über die Geschichte Mellingens im Zeitraum von 1500 bis 1650 erwähnt. So ist die gesamte Geschichte Mellingens – ausgenommen von 1650 bis 1700 und das 20. Jahrhundert durch freiwillige Forschung mehr und minder intensiv aufgearbeitet.
Otto Hunziker (1900-1976)
unterrichtete von 1930 bis 1965 als Bezirkslehrer in den Fächern Geografie, Geschichte, Deutsch und Zeichnen. Neben seiner Schultätigkeit befasste sich Hunziker intensiv mit der Geschichte Mellingens. Neben kleineren Beiträgen verfasste er auch vier exemplarische Schriften über MelIingen-Dorf (Gemeindeseite rechts der Reuss), Reformiert Mellingen, über die Schule und das Kadettenkorps. lhn interessierte aber auch das Gemeindegebiet vor mehreren Jahrtausenden, förderte Funde aus der Steinzeit im Gheid zu Tage und befasste sich mit den Findlingen, welche der Reussgletscher vom Gotthard bis in unsere Wälder getragen hatte. Hunziker war zudem auch ein begabter Künstler und Grafiker. Das Fotoarchiv Mellingen besitzt rund 50 Kunstwerke von seiner Hand, die auch auf der Homepage zu sehen sind. -> Personen - Kunst - Otto Hunziker.
Bild-Nr.: 41130.2
Bild: Fotoarchiv Mellingen
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2020
Copyright: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2020
Bild: Der Buchdeckel von Hans Köfers Werk «Harte Kriegsjahre». Dieses Bild stammt vom Autor persönlich. Hans Köfer war nicht nur ein renommierter Wirtschaftsfachmann und ein fantasievoller Erzähler, sondern zudem ein begabter Maler. So hielt er auch verschiedene Motive des Reusstals und von Mellingen mit seinem Pinsel fest.
Von grosser Bedeutung für die Ortsgeschichte sind die drei Bücher, in denen die persönlichen Erinnerungen über das Leben in Mellingen im letzten Jahrhundert festgehalten wurden.
Es sind wertvolle zeitgeschichtliche Werke, welche vor allem das Leben der einfachen Leute in Mellingen in vielen Details offenlegen. Hans Kofer (1927-2020) schildert im 1992 erschienenen Band «Die kleine Stadt am schwarzen Fluss», wie er als Primarschüler die entbehrungsreiche Zeit in der grossen Weltwirtschaftskrise vor dem Zweiten Weltkrieg erlebte. 1998 erschien Köfers zweiter Band «Harte Kriegsjahre». Er erzählt u.a. über Mellingen als Garnisonsstadt und die Bemühungen, für die Bevölkerung genügend Nahrungsmittel zu beschaffen.
Während sich die Schilderungen Köfers hauptsächlich in der Altstadt abspielen, erzählt Emilia Pagano-Hirt (1931-2O17) in ihrem Buch «Geschichten und Erzählungen» über ihre Erlebnisse als Kind aber auch als Erwachsene im Gebiet Allmendliweg/Stetterstrasse.
Gottfried Schibli (1907-2000) und Otto Müller (1923-2008),
die beiden langjährigen Lehrer von Mellingen, vertieften sich ebenfalls in die Geschichte unserer Gemeinde. In ausführlicher Form gab Gottfried Schibli 1976 die «Geschichte der Gemeindeschule Mellingen», heraus. 1985 ergänzte er die Geschichte der Stadtmusik von Albert Nüssli zum 125-Jahr-Jubiläum dieses Vereins.
Otto Müller verfasste den Text des Bildbands, der zum Jubiläum «700 Jahre Stadtrecht» herausgegeben wurde. Zu der von ihm 1998 im Ortsmuseum gestalteten AusstelIung «Kadetten in Mellingen» stellte er eine ausführliche Begleitschrift zusammen. Eine ganze Anzahl von Artikeln in der Städtlichronik und im «Reussbote» zeugt von seinem lnteresse zur Geschichte Mellingens. AIs langjähriger Städtliführer und Präsident des Kulturkreises Mellingen, sowie als Gründer des «Fotoarchivs MelIingen» trug er Wesentliches zur Vermittlung des historischen Wissens über unser Städtchen bei.
Vorliegender Text führt uns eindrücklich vor Augen, wie Generationen von Mellingern und auswärtigen Wissenschaftlern sich meist freiwillig bemühten, die Geschehnisse in der Vergangenheit unserer Gemeinde auszuleuchten. Noch ist aber manches zu erforschen. Aus Dankbarkeit über das bereits Geleistete, sollte uns dies Auftrag sein, an der Geschichte Mellingens weiter zu schreiben.
Bild-Nr.: 41130.3
Bild: Buchdeckel Hans Köfer
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2020
Copyright: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2020