2016 Die Mellinger Murtenlinde - ein botanisches Kleinod, Rainer Stöckli

Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991

Die Mellinger Murtenlinde - ein botanisches Kleinod

Bildlegende: Die "Murtenlinde" hat sich prächtig entwickelt.

Bäume, die mit einem historischen Ereignis in Verbindung gebracht werden können, sind besonders wertvolle Naturdenkmäler. Denken wir nur an die viele hundert Jahre alte Linde von Linn, von der man annimmt, sie sei über einem Pestgrab gepflanzt worden. Die Mellinger Murtenlinde ist ein Abkömmling der berühmten Freiburger Linde, die der Sage nach mit der Schlacht von Murten in Zusammenhang stehen soll. Bekanntlich bekämpften die eidgenössischen Orte zusammen mit Savoyen und Frankreich 1476/77 den Herzog von Burgund, Karl den Kühnen. ln den Schlachten von Grandson, Murten und Nancy, an denen auch Kontingente von Mellingen teilnahmen, wurde der Herzog vernichtend geschlagen. Nach der verlustreichen Schlacht bei Murten vom 22. Juni 1476 soll ein Meldeläufer als Siegeszeichen einen Lindenzweig von Murten nach Freiburg getragen haben, wo der Bote tot zusammengebrochen sei. ln Freiburg habe man den Lindenast in die Erde gesteckt. Daraus soll die Murtenlinde entstanden sein.

Die «Kinder» der Murtenlinde
Man sah es schon längere Zeit kommen: Der historischen Murtenlinde in Freiburg ging es schlecht. 1985 versetzte ein unvorsichtiger Lastwagenchauffeur dem alten Baum den endgültigen Todesstoss. Glücklicherweise schnitt der Biologie-Student Alois Schmid schon 1974 - später wurde der Redemptoristenpater Dozent an der Uni Freiburg - Zweige von der alten Linde ab. Er steckte die kleinen Äste in eine Nährlösung mit Wachstumshormonen. Schmid schrieb nämlich eine Dissertation über die Steckholzbewurzelung bei einheimischen Laubholzarten. Sein Experiment hatte unerwartet grossen Erfolg. Die Stecklinge bildeten rasch Wurzeln und entwickelten sich zu Bäumen mit den gleichen Genen wie die Freiburger Murtenlinde. ln diesem Sinne sind es eigentlich Geschwister dieses Baumes, einer Kreuzung zwischen Sommer- und Winterlinde. So finden sich in der Schweiz und in Castel Candolfo, dem Sommersitz des Papstes, an die 20 Abkömmlinge der Murtenlinde. Drei davon strecken ihre Wipfel im Aargau in den Himmel: Beim Schloss Brestenberg, in Böbikon im Studenland und eben in Mellingen. Das Schloss Brestenberg kam zu diesen Ehren, weil dieses Anwesen einst der Landsitz der Herren von Hallwyl war. Ritter Hans von Hallwyl (+1504) führte eine Vorhut in der Schlacht von Murten an. Böbikon erhielt einen Lindenbaum geschenkt, weil Pater Schmid hie und da dort als Seelsorger wirkte. Und hier in Mellingen steht ein Exemplar wegen den freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Gewerbevereinen von Murten und Mellingen.

Die Murtenlinde zwischen lberg und Alterszentrum
Dass die Mellinger Murtenlinde 1992 auf der lbergwiese zwischen dem Alterszentrum und dem Schlösschen lberg eingepflanzt wurde, war äusserst sinnvoll. lm lberg wohnte nämlich von circa 1300 bis 1590 die Mellinger MagistratenfamiIie von Segesser, welche in den Burgunder Kriegen eine bedeutende Rolle spielte. So führte Hans Arnold von Segesser (1451-1503) ein Kontingent von 77 Bürgern aus Bremgarten und Mellingen nach Grandson.
Als Dank für seine engagierte Art erhielt Segesser von Bern die Ritterwürde. Auch in Murten kämpfte eine Schar Mellinger mit und ebenfalls in Nancy, wo Karl der Kühne seinen Tod fand. An dieser Schlacht spielte der Bruder des obgenannten, Hans Rudolf von Segesser (+1525), eine führende Rolle und erlangte angesichts seiner Tapferkeit ebenfalls die Ritterwürde. Zudem stand dieser zwischen 1478 und 1518 mehrmals als Schultheiss der Stadt vor. Es ist anzunehmen, dass an jeder der drei Schlachten etwa je 24 Mellinger mitgekämpft haben.

Symbiose von Jung und Alt
Die noch jugendliche Mellinger Murtenlinde wurzelt seit 1992 in der Mellinger Erde und hat sich seither prächtig himmelwärts entwickelt. Dieser Baum mit jahrhundertealten Genen steht zwischen dem lberg, dessen Ursprünge in die Zeit der Stadtgründung zurückgehen, und dem modernen Alterszentrum, der Nachfolgeinstitution des 1313 in Mellingen gegründeten Spitals: Auf der einen Seite thront also ein Bau, der weit älter ist als die Murtenlinde, seit 1969 aber den Kinderhort beherbergt. Auf der anderen Seite steht die Unterkunft für die ältere Generation, ein hochmoderner Bau einer Institution mit jahrhundertealten Wurzeln. Alt und Jung gehen hier eine Symbiose ein.

Rainer Stöckli

Literatur:
- Jungo Anton. Schwestern der neuen Murtenlinde. ln: Freiburger Nachrichten
26.6.2014.
- Mellinger Städtlichronik 1993, S. 64-67, 93-96.
- Schmid Alois. Die Fortpflanzung der Murtenlinde. ln: Bulletin de la Société
fribourgeoise des sciences naturelles 64 (1975) S. 41-45.




Bild-Nr.: 41050
Bild: Mellinger Städtlichronik 2016
Text: Rainer Stöckli
Copyright: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2016

2016