2016 - Mellingen - eine Schatzkiste? Rainer Stöckli

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2016 Die Liebenden von Mellingen

Bild: Die Liebenden von Mellingen. Original im Ortsmuseum

Anfänglich wollte ich meinem Text den Titel «Ein Historiker auf Schatzsuche», geben. Doch nach einigem Überlegen musste ich mir einerseits eingestehen, dass in unserer Gemeinde viel Schätzens- und Schützenswertes vorhanden ist, nach dem nicht mehr gesucht werden muss. Anderseits wäre dies ohne meine fast 50-jährige Forschertätigkeit über die Geschichte Mellingens in einzelnen Fällen nicht möglich gewesen, darüber Auskunft zu geben. Vieles konnte ich aber auch aus der Literatur oder aus dem Wissen diverser Spezialisten schöpfen. Doch die Schatzsuche geht weiter; manches ist noch nicht geklärt. Die Geschichte ist wie ein Bergwerk: Vielleicht gibt es im Laufe der Zeit weitere Schätze frei
... Hier nun eine kleine Auswahl von 3 wertvollen Geschichtszeugen, von denen wir einiges wissen:

Die Liebenden von Mellingen

1944 wurden in Zusammenhang mit dem Kelleraushub für die nachmalige Drogerie Busslinger (heute 2016 Drogerie Haus) an der Hauptgasse Nr. 3 wertvolle Fragmente aus dem Mittelalter geborgen, welche über die damalige teilweise hohe Wohnkultur im Städtchen Aufschluss geben. Dass diese Fundstücke auch heute noch erhalten sind, ist das Verdienst von Hausbesitzer Emil Busslinger (1918-2002) sowie Bezirkslehrer Otto Hunziker (1900-1976) und Bodenforscher Karl Heid (1896-1968) aus Dietikon.

Bis 2005 waren die Fragmente im Besitz der Familie Busslinger und gingen damals als Dauerleihgabe ans Ortsmuseum Mellingen über. Es sind 105 Teile von Kacheln eines spätgotischen Turmofens. Auf einzelnen Kacheln findet sich figürlicher Schmuck - Menschen, Tiere und pflanzliche Motive - von aussergewöhnlich guter Qualität, wie dies im Aargau selten nachgewiesen werden kann. Hunziker und Heid datierten diese Fragmente in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts. Beim Übergang der Objekte ans Museum wurden die Kacheln von den Mittelalterspezialisten Christoph Reding und Peter Frey von der Kantonsarchäologie Aargau begutachtet. Aufgrund der Bekleidung verschiedener Personen datierten die Archäologen die Fundstücke in die letzten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts. Beeindruckend ist beispielsweise ein Mann mit ausdrucksstarkem Gesicht und langem, wallendem Haar. Auf einer anderen Kachel ernährt ein Pelikan seine Jungen. Als eindrücklichstes Objekt darf ein eng umschlungenes Liebespaar in Gewändern des ausgehenden 14. Jahrhunderts gelten. Diese Figurengruppe hatte Emil Busslinger besonders ins Herz geschlossen und nannte diese «Die Liebenden von Mellingen». Von diesem Prunkstück stellte Busslinger zahlreiche Abgüsse her und verschenkte sie - versehen mit einem gotisch anmutenden Rahmen - an lnteressierte, Freunde und Bekannte. Dieses Sujet fand 1991 seine Fortsetzung, als der bedeutende Aargauer Künstler Eduard Spörri (1901-1995) die Plastik eines jugendlichen Liebespaares für den Kirchplatzbrunnen schuf.





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Bild: Denkmalpflege Aargau / Mellinger Städtlichronik 2016
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2016
Copyright: Rainer Stöckli/Denkmalpflege Aargau / Mellinger Städtlichronik 2016

2016

2016 Der "Zwinglibecher"

Bild: Der Zwinglibecher

Der Zwinglibecher, ein 31 cm hoher silbervergoldeter Pokal, ist ein Kleinod im Ortsmuseum Mellingen. Der Legende nach soll dieser Becher ein Geschenk des Zürcher Reformators Ulrich Zwingli sein.
Anfangs 1528 reiste Zwingli mit einem grossen Tross über Mellingen an die Berner Disputation, welche der Einführung der Reformation in vielen eidgenössischen Gebieten zum Durchbruch verhalf. Am 2. Januar hielt die Mannschaft in Mellingen Mittagsrast. Zwingli selbst ass mit zahlreichen Gefolgsleuten im Gasthof Hirschen zu Mittag. Als Dank für die Gastfreundschaft habe der Reformator den Mellingern den kostbaren Becher geschenkt. Aufgrund kunsthistorischer Untersuchungen und eines schriftlichen Belegs aus dem Ende des 18. Jahrhunderts kann diese Tradition nicht aufrechterhalten werden. Laut Expertise des Nationalmuseums Zürich ist der Pokal das Werk eines Nürnberger Goldschmieds aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, demnach einer Zeit, als Zwingli längst verstorben war.
Dass dieses Kunstobjekt - vermutlich aber erst im 19. Jahrhundert - als Zwinglibecher bezeichnet wurde, dürfte zwei Gründe haben: Einerseits ist auf dem Deckel des Pokals ein Wappen angebracht, das eine gewisse Ähnlichkeit zu jenem Zwinglis hat. Andererseits findet sich auf der lnnenseite des Deckels die lnschrift «Symbolum Colloquij Marpurgensis 1529», zu Deutsch sinngemäss:
lm Gedenken an das Marburger Gespräch 1529. Gemeint sind damit die Marburger Religionsgespräche, an welchen insbesondere Zwingli und der Reformator Martin Luther bezüglich der Abendmahlsfrage vergeblich einen Konsens zu finden suchten. So stellt sich denn die Frage, auf welchem Wege dieses kostbare Gefäss in den Besitz der Stadt gelangte.
Wenn jemand Bürger von Mellingen werden wollte, musste der Stadt eine bestimmte Summe Geld bezahlt und ein silberner Becher vermacht werden. Es darf daher davon ausgegangen werden, dass dieser Pokal in Zusammenhang mit einer Einbürgerung von einem begüterten Anwärter den Mellingern geschenkt wurde. Wer dies aber sein könnte, ist bis heute nicht bekannt. Hier trotzdem ein (zugegebenermassen sehr gewagter) Deutungsversuch: Falls es sich tatsächlich um einen Bürgerbecher handeln sollte, gibt die lnschrift mit dem Hinweis auf das Marburger Religionsgespräch Probleme auf. ln Mellingen wurden bis 1798 nur Katholiken als Bürger aufgenommen. Könnte es sich daher um einen Konvertiten handeln? Dies träfe auf Jakob Fuchsberger (1502- 1562) von Rottweil zu, der zur Reformation übertrat und 1529 nach Zürich emigrierte. Fuchsberger nahm auf reformierter Seite am 2. Kappelerkrieg teil. Als Hauptmann in französischen Diensten wechselte er wieder zum katholischen Glauben, erwarb das Schlösschen Hünegg (heute (2016) das Chinarestaurant an der Bahnhofstrasse Nr. 9) in Mellingen und richtete hier ein Söldnerwerbezentrum ein. Zwischen 1536 und 1539 erlangte er das Mellinger Bürgerrecht. Zu Fuchsberger würde auch die Figur eines Kriegsknechts, die den Deckel des Bechers ziert, passen. ln diesem Falle wäre der Becher allerdings wesentlich früher entstanden als in der Expertise angenommen. Leider ist vom reichen Stadtschatz ausser dem Zwinglibecher nichts mehr erhalten. Als 1798 die Franzosen in die Eidgenossenschaft eindrangen und in den folgenden Jahren auch die Armeen anderer Länder sich in unserem Land bekriegten, war die Region Mellingen einmal mehr Aufmarschgebiet für Tausende von Soldaten. Dies belastete die Stadtkasse so sehr, dass sich
die Behörden gezwungen sahen, sämtliche Bürgerbecher zu veräussern. Doch den Zwinglibecher wollte man nicht aus den Händen geben. Es steht im Protokoll:
«Der Bächer vom Symbolum Marburgensis ... solle hier als ein gewüsses Andenken verbleiben und dieses ... nicht verkauft werden».



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Mit anderen Worten: Um 1800 hatte dieser Pokal noch nicht die Bezeichnung Zwinglibecher. Diese Zuweisung muss also erst im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgt sein.
1894 wurde die «Evangelisch-reformierte Genossenschaft Mellingen und Umgebung» gegründet. Für die erste Abendmahlsfeier, die am 25. März 1894 im Gemeindesaal im heutigen Rathaus gefeiert wurde, überliess man den reformierten Mitchristen leihweise den Zwinglibecher. Der Pokal wurde also damals dem Reformator zugewiesen. Dieses Kleinod ist daher für die Ref. Kirchgemeinde von hoher symbolischer Bedeutung.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Becher als Depositum im Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich aufbewahrt. Die dortigen Fachleute erkannten jedoch, dass der Pokal weder Zwingli zugeschrieben werden könne noch von einem Schweizer Kunsthandwerker geschaffen worden sei. Aus diesen Gründen gab der Aargauer Regierungsrat das Plazet, MelIingen dürfe den Becher verkaufen. So erwarb 1904 der passionierte Sammler von Goldschmiedekunst, Roman Abt von Luzern, für 1700 Fr. dieses Kleinod.
Nach Abts Tod 1933 überliessen dessen Nachkommen den Becher dem Kunsthandel. Es war das grosse Verdienst von Redaktor Albert Nüssli (1891 -1984), dass dieser noch in den 1930er-Jahren den Zwinglibecher als Privatmann erwarb und der Pokal wieder in Mellinger Hände gelangte. Die Erbengemeinschaft bot nach Nüsslis Tod den symbolträchtigen Becher der Ref. Kirchgemeinde Mellingen an. Da die damals zuständigen Behörden sich nicht im Klaren waren, wo man das wertvolle Stück aufbewahren oder präsentieren könnte, verzichtete man auf diese Schenkung. Deshalb vermachte die Erbengemeinschaft den Zwinglibecher 1997 an die Gemeinde Mellingen zuhanden des Ortsmuseums, knüpfte daran aber die Bedingung, dass das Kleinod nie mehr verkauft werden dürfe.


Bild-Nr.: 41060.1
Bild: Christine Seiler/Mellinger Städtlichronik 2016
Text: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2016
Copyright: Christine Seiler/Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2016

2016

2016 Antonius mit Jesuskind

Bild: Antonius mit Kind, Antoniuskapelle

ln reichem Mass ist in Mellingen die sakrale Kunst vertreten, denken wir nur an die Fresken im Turmchor der Stadtkirche St. Johannes aus dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts, an die Kabinettscheiben in der daneben stehenden Kirche aus der Zeit zwischen 1629 und 1675, den wertvollen Kirchenschatz im Archiv der Kath. Kirchgemeinde oder die Madonna am «Scharfen Eck», ein Werk, das der einheimische Künstler Kaspar Josef Widerkehr um 1740/50 schuf.

Wir wollen uns hier auf die barocke Figurengruppe auf dem Altar in der Antoniuskapelle konzentrieren. Barocke Kunst ist heute nicht jedermanns Sache. Dass diese gefühlsbetonte Kunstrichtung auch vor 150 Jahren kritisch hinterfragt wurde, mag erstaunen. Es ist daher reizvoll nachzugehen, wie diese Antoniusfigur mit Jesuskind in den letzten 280 Jahren wahrgenommen wurde. 1739 erhielt der Mellinger Schultheissen Franz Xaver Widerkehr und seinem Sohn Kaspar Josef den Auftrag, in der 1736 errichteten Antoniuskapelle einen Altar mit Figurenschmuck zu realisieren. Heute (2016) ist nur noch die Figurengruppe erhalten. Altar und Altaraufbau wurden 1865 entfernt. Was an dieser Plastik Vater oder Sohn zugewiesen werden kann, Iässt sich nicht so leicht entscheiden. Der ehemalige aargauische Denkmalpfleger Peter Felder meint dazu: «lmmerhin bemerkt man (ganz allgemein) im ornamentalen und besonders figürlichen Schaffen der Werkstatt (von Vater und Sohn Widerkehr) deutlich eine konservative, derb-kernige und eine fortschrittlich-elegante Richtung, die eine ältere und eine jüngere Hand vermuten lassen». Aus stilistischen Gründen ist deshalb die derart zart ausgebildete Figurengruppe Caspar Joseph Widerkehr zuzuschreiben. [Nachtägliche Bemerkung: Nach heutiger Ansicht (2023) wurde der gesamte Altar samt Figurengruppe von Kaspar Josef Widerkehr geschaffen.]

lnnig, ja zärtlich hält Antonius das Jesuskind in seinen Armen. Es ist anzunehmen, dass dieses gefühlvolle Werk die Menschen jener Zeit, wo Heiligenfeste mit grossem Pomp gefeiert wurden, sehr angesprochen hat. Ende des 18. und im 19. Jahrhunderts hat die Aufklärung auch das Denken und Empfinden vieler Geistlicher beeinflusst. Davon legt die von Pfarrer Jakob Leonz Sachs (1826-1898; Pfarrer von Mellingen 1857-1898), verfasste Pfarreichronik Zeugnis ab. Darin schreibt der Seelsorger, dass der aus der Bauzeit der Antoniuskapelle stammende Altar, «im reinsten Zopfstil ausgeführt», für den kleinen Raum viel zu «kolossal», wirke. Auch der verzückt drein blickende Antonius schien dem Pfarrer nicht zu behagen. Wenn nämlich - so schreibt er in seiner Chronik weiter – «vom Fortschritt angehauchte Männer» an Begräbnissen teilnähmen, so biete «dieses Bild nur Anlass zum Gespött». Deshalb sei der Gedanke wach geworden, «den Altar durch einen gesunderen zu ersetzen, für das Antoniusbild ein ästhetischeres an Platz zu bringen». Das Urteil des Pfarrers verfehlte seine Wirkung nicht. Der barocke Altar wurde 1865 durch eine neugotische Konstruktion und die Antoniusplastik durch ein Gemälde von Franz Bertle aus Schruns in Vorarlberg ersetzt. Gegen den Widerstand recht vieler Gläubiger liess Pfarrer Sachs die Antoniusfigur aus der Kapelle entfernen und schickte diese ins Exil in den lberg, ins damalige Altersheim.
Als das Kapelleninnere unter Pfarrer Richard Bopp (1885 -1956; Plarrer von Mellingen 1916-1956), 1923 erneut umgestaltet wurde, durfte unser Antonius wieder in die Kapelle zurückkehren. Die mehrfarbige Figurengruppe wurde aber mit weisser Farbe übertüncht und in einen von Alois Payer und Franz Wipplinger aus Einsiedeln gefertigten Altar integriert. Auf der Chorscheitelmauer gestalteten die nämlichen Künstler Gottvater in der Engelglorie und auf den seitlichen Chorwänden Hochreliefs aus dem Leben des heiligen Antonius. Anlässlich der Restauration 1981 bis 1983 wurden - zum Leidwesen mancher Gläubiger - sämtliche Werke von Payer und Wipplinger entfernt. Ein ehemaliger Barockaltar aus dem Kloster Werthenstein/LU wurde derart rekonstruiert, dass die Antoniusfigur eingepasst werden konnte. Der Heilige mit Kind erhielt wieder seine ursprüngliche polychrome Fassung. Denkmalpfleger Peter Felder beschrieb 1972 die Figurengruppe folgendermassen: «Die originelle figürliche Komposition zeigt den verzückten Heiligen devot vor einem schemelförmig ausladenden ...Tabernakel (Behältnis für die Hostien) kniend und mit beiden Armen das Jesuskind umschliessend». Und an anderer Stelle meint Felder: «Selten sei in unseren Gegenden bei Plastiken des 18. Jahrhunderts «eine solche Zartheit des seelischen Ausdrucks erreicht worden wie hier». Fachleute bezeichnen also die Figur als eines der bedeutsamsten Barockwerke des Aargaus, als ein ausgesprochen wertvolles Kunstwerk. Und wir? Vielleicht gibt uns Antonius mit seinem gütigen Blick zu verstehen: «Da mische ich mich nicht drein; das müsst ihr selbst beurteilen»!

Literatur:
- Stöckli Rainer u.a. Antonius-Kapelle Mellingen. Mellingen 1983, mit zahlreichen
weiteren Literatur- und Quellenangaben.



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Bild: Rainer Jung/Mellinger Städtlichronik 2016
Text: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2016
Copyright: Rainer Jung/Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2016

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