2014 - Die Reuss - Schicksalsnerv von Mellingen Rainer Stöckli

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2014 - Die Reuss - Schicksalsnerv von Mellingen, Rainer Stöckli

Mellingen um 1750. Auf der Reuss kursieren verschiedene Schiffe. Ölgemälde von unbekannter Hand im Ortsmuseum Mellingen.

Die Reuss und die Stadt Mellingen bildeten stets eine Schicksalsgemeinschaft. Deshalb kann man füglich behaupten: ohne Reuss keine Stadt Mellingen. Diese Symbiose einer städtischen Siedlung an einem grösseren Fluss kann bei einem Grossteil der aargauischen Städte festgestellt werden.
Davon ausgenommen sind Lenzburg und Zofingen, die unterhalb einer mächtigen Burg beziehungsweise um ein bedeutendes Chorherrenstift entstanden. Alle übrigen Städte waren Brückenorte an Aare, Reuss, Limmat und Rhein. Mit anderen Worten: Diese Gemeinwesen hatten für die Landesherren als Brückenorte strategisch und wirtschaftlich eine hohe Bedeutung. Dies traf auch auf Mellingen zu.

Den Reussübergang sichern
Schon seit 1172 war das Schloss Stein in Baden im Besitz der Kyburger. ln den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts gelangte auch das Schloss Lenzburg und die Region Mellingen an dieses Grafengeschlecht. Nach heutigem wissenschaftlichem Stand dürfte zudem in Baden zwischen 1230 und 1240 und in Lenzburg vor 1241 ein befestigter Markt unterhalb der Burgen errichtet worden sein. So war es für die Kyburger ein Muss, am direkten Weg zwischen den beiden Macht- und Wirtschaftszentren, an jener Stelle, wo die Reuss am schmalsten war, eine befestigte Siedlung mit Brücke zu bauen. Dies war umso notwendiger, sassen doch im Norden im Eigenamt und in Brugg sowie im Süden im Raum Bremgarten die Habsburger. Da Mellingen seit 1242 in Urkunden häufig als befestigte Siedlung erwähnt wird, kann daraus geschlossen werden, dass der mit Mauern bewehrte Markt, der erst 1296 das formale Stadtrecht erhielt, wie in Baden und Lenzburg in den 1230er-Jahren entstanden ist.

Und früher...?
Schon im 1. Jahrhundert nach Christi Geburt dürfte laut Lokalhistoriker Otto Hunziker eine von den Römern gebaute Strasse von Baden (Aquae Helveticae) über Dättwil und das Gebiet des ehemaligen Bahnhofs Mellingen zur Reuss geführt und im Umfeld der heutigen Sägerei in einer Furt den Fluss überquert haben. Weiter verlief die Strasse wohl über Mägenwil nach Lenzburg (Lentia).
1940 entdeckte man nämlich beim Bau des Schwarzgrabenkanals zwischen MelIingen und Büblikon 27 Eichenpfähle und an der Strasse von Wohlenschwil nach Mägenwil weitere Funde, die damals als Spuren einer Römerstrasse gedeutet wurden. 50 Jahre später formulierte der Kantonsarchäologe aber folgende Theorie: Bei den Pfählen im Schwarzgraben könnte es sich ebenso gut um Überreste einer Verladebrücke oder einer Schifflände handeln, von welcher aus Steinquader und eventuell auch landwirtschaftliche Produkte auf der Reuss nach Vindonissa verschifft wurden.

Eine Schifflände 1178
Die Reussschifffahrt in Mellingen ist 1178 erstmals urkundlich erwähnt. Doch wurde der Fluss sicher seit der Römerzeit für Personen- und Warentransporte benutzt. Auf einer Papsturkunde von 1178 wird dem in der Lindtebene gelegenen Frauenstift Schänis zahlreicher Besitz im heutigen Gebiet des Aargaus bestätigt, so die Kirche in Mellingen, zu der auch ein Gut und die Schifflände gehörten. Vieles spricht dafür, dass es sich beim genannten Gut um den Vorgängerbau des lberg handelt. Archäologische Untersuchungen im Jahre 2000 konnten hingegen keinen vorstädtischen Baugrund nachweisen. Allerdings hätte sich das Gebiet in der Umgebung dieses Gebäudes, wo die Reuss relativ langsam fliesst und das Bord nicht steil ist, bestens für eine Schifflände geeignet.

Viel weniger wäre aus topografischen Gründen eine Anlegestelle beim Alten Rathaus infrage gekommen, obwohl neueste Untersuchungen Hinweise liefern, dass hier schon vor Errichtung eines ummauerten Marktes ein Gebäude stand. Möglicherweise war dieses ein sogenanntes «festes Haus», von welchem aus der Reussverkehr kontrolliert werden konnte.

Der Schiffsverkehr
Der Schiffsverkehr lag hauptsächlich in den Händen von Luzerner Bürgern, unter anderen aus den Familien Feer, Fleckenstein oder Kündig, welche der Stadt Luzern eine Konzessionsgebühr entrichten mussten. Nach heutigem Wissensstand ist aber kein einziger Mellinger Bürger bekannt, der die Schifffahrt gewerbsmässig betrieben hätte. Da die Reuss auch früher vor allem im Winter oft wenig Wasser führte, stellte man den Verkehr dannzumal meistens ein. ln der Regel wurde der Fluss nur von Ostern bis St. Michael (29. September) oder allerspätestens bis Martini (11. November) befahren.

Erschwerend kam hinzu, dass Findlinge ober- und unterhalb Mellingens ein sehr geübtes Lenken der Schiffe erforderte. Zum grössten Teil wurde die Reuss nur flussabwärts benutzt. Die entleerten Schiffe verkaufte man nicht selten in Basel. Mühsam war die Bergfahrt. Die Schiffe wurden entweder mit viel Muskelkraft mittels Rudern oder eisernen Stangen Richtung Luzern befördert. Üblich war auch das Schleppen: Männer oder Pferde, die neben dem Fluss am angrenzenden Ufer gingen, zogen mit Seilen die Schiffe flussaufwärts. Neben mit Waren beladenen Kähnen verkehrten auch regelmässig Kursschiffe für Personen. lm 16. Jahrhundert verliessen wöchentlich 3 Kursschiffe Luzern, im 18. Jahrhundert war es noch eines. Die immer mehr aufkommenden Kutschenfahrten konkurrenzierten das Reisen auf dem Wasser. Bekanntlich hielt sich in der Nacht vor dem 1. September 1505, als Mellingen durch Brandstiftung zu etwa drei Vierteln eingeäschert wurde, zahlreiches auswärtiges Volk im Städtchen auf. Diese Leute waren zu einem grossen Teil mit Schiffen nach Mellingen gelangt, um am nächsten Tag auf Reuss und Aare in die Nähe von Zurzach zu gelangen, wo der für ganz Mitteleuropa bedeutsame Verenenmarkt abgehalten wurde.


Bild-Nr.: 39090
Bild: Mellinger Städtlichronik 2014
Text: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2014
Copyright: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2014

2014

Transport auf der Reuss

Strategische Skizze von Reformator Ulrich Zwingli von 1529. Die Erläuterungen dazu siehe im Text. Original im Staatsarchiv Zürich: Signatur E ll.34l, f 3295. Foto: Fotoarchiv Mellingen

Transportgüter
Seit die Schöllenenschlucht vermutlich im 13. Jahrhundert begehbar wurde, gewann der Säumerverkehr von Süden über den Gotthardpass nach Uri an Bedeutung. Heute ist man sich eigentlich kaum mehr bewusst, dass früher der Kanton Uri, wo die Reuss entspringt, und Mellingen, die letzte Stadt an diesem Fluss, nicht zuletzt wirtschaftlich in Beziehung standen. Der Flussname Reuss wird urkundlich übrigens erstmals 1296 erwähnt, demnach im gleichen Jahr, in welchem Mellingen das Stadtrecht erhielt. Vorher hiess der Fluss Silene, wovon sich der Dorfname Silenen im Kanton Uri ableitet. Die Güter aus dem Süden wurden durch das Urner Reusstal bis nach Flüelen transportiert, hier auf die Schiffe des Vierwaldstättersees verladen und zum Teil in Luzern von den sog. «Niederwässerern», den Schiffsleuten, welche die Waren ab Luzern auf der Reuss weiterbeförderten, übernommen. So wurden beispielsweise Reis, Kastanien, Häute und Nüsse nach Norden geführt. Flussaufwärts transportierte man vor allem Getreide und Salz.
Ein Teil der Schiffsgüter wurde in Mellingen in der Sust (heute Haus Bruggerstrasse 36) von den Schiffen aufs Land befördert oder umgekehrt. Getreide wurde dort oft eine Zeit lang gelagert und zum Teil verkauft. Darum hiess die Sust auch Kaufhaus. Betrieben und verwaltet wurde der ganze Güterumschlag vom Sustmeister, einem städtischen Beamten.

Der Salzhandel
Mellingen war für den Luzerner Salzhandel sehr bedeutend. Seit 1647 besass Luzern an der Stelle des heutigen katholischen Pfarrhauses ein Salzhaus. Damals waren die Salzvorkommen am Rhein noch nicht bekannt. Das Salz stammte in früheren Jahrhunderten aus Burgund, Lothringen, Tirol und Bayern. Meist wurde in Mellingen Salz aus Bayern und Tirol eingelagert. Dieses gelangte über den Bodensee und den Rhein nach Schaffhausen, Eglisau oder Kaiserstuhl und von dort meist auf dem Landweg nach Mellingen. Hier wurde ein Teil an die Händler im Freiamt verkauft und ein Teil ins Salzhaus nach Luzern verfrachtet. Dies geschah teils auf der Strasse, teils auf der Reuss. Doch der Transport auf dem Schiff war enorm teuer. So betrugen beispielsweise die Frachtkosten für ein Fass Salz - ein solches konnte bis 500 Kilogramm schwer sein – von Schaffhausen nach Mellingen 1½ Gulden, der Weitertransport auf dem Fluss von Mellingen nach Luzern samt Zöllen und übrigen Abgaben weitere 3½ Gulden.


Bild-Nr.: 39020
Bild: Mellinger Städtlichronik 2014
Text: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2014
Copyright: Mellinger Städtlichronik 2014

2014

Strategische Barriere

Buchdeckel von Hans Köfers Werk «Die kleine Stadt am schwarzen Fluss». Diese Stadtansicht wurde ebenfalls von Köfer gemalt.

Die Reussbrücke in Mellingen war der wichtigste FIussübergang zwischen Zürich und Bern, den beiden bedeutendsten Städten der Alten Eidgenossenschaft. Als Zürich und Bern in den 1520er-Jahren zum reformierten Glauben übertraten und es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, rückte besonders das Brückenstädtchen MelIingen ins lnteressenfeld der beiden konfessionellen Parteien. Nicht umsonst stammt vom Reformator Ulrich Zwingli ein Gutachten, worin dieser vorschlug, Mellingen und, wenn nötig, auch Bremgarten zu besetzen.
Diesem Gutachten ist auch eine eigenhändige Zeichnung Zwinglis von 1529 beigefügt, wohl die erste strategische Skizze über den hiesigen Raum. Sie zeigt die Flüsse Aare, Reuss und Limmat; eingezeichnet sind neben den katholischen lnnerschweizer Orten auch die reformierten Stände Zürich und Bern sowie die 3 wichtigen Brückenstädte Baden, Mellingen und Bremgarten.
Als dann die ebenfalls zur Reformation übergetretenen Städte Bremgarten und Mellingen nach den Niederlagen von Kappel und am Gubel 1531 auf Befehl der lnnerschweizer wieder zur katholischen Konfession zurückkehren mussten und sich Mellingen fast 200 Jahre lang den lnnerschweizern unterzuordnen hatte, spielte der Reussübergang von Mellingen in den strategischen Überlegungen eine wichtige Rolle. Es fehlt der Raum, hier auf alle Details einzugehen.
Nur ein Beispiel: Obwohl im Dreissigjährigen Krieg (1618-1648) die Eidgenossenschaft nur am Rande betroffen war, entwarfen Zürich und Bern ganz konkrete Strategiepläne, so 1623. Damals vereinbarte man, um einander zu Hilfe kommen zu können, unterhalb von Mellingen im Notfall eine Schiffsbrücke über die Reuss zu schlagen, d.h. in der Gegend des heutigen Fussgänger- und Fahrradstegs. Das Brückenmaterial samt einer genügend langen Kette musste auf Schloss Lenzburg stets griffbereit sein. Dieses Konzept hatte bis Anfang des 18. Jahrhunderts Gültigkeit, wurde aber nie realisiert. Bemerkenswert ist immerhin, dass 1939 ganz zu Beginn des Zweiten Weltkriegs an dieser Stelle eine hölzerne Militärbrücke gebaut wurde, die dann aber 1953 dem oben genannten Steg weichen musste.

Die kleine Stadt am schwarzen Fluss
Unter diesem Titel veröffentlichte Hans Köfer 1992 die Erinnerungen an seine Jugendjahre in Mellingen, an die entbehrungsreiche Krisenzeit der 1930er-Jahre. Nicht umsonst hat Köfer seinem Buch diesen Titel gegeben. An mehreren Stellen schildert der Autor die Reuss als gefährlichen Fluss, der bei Hochwasser das Städtchen bedrohte und in dem immer wieder Menschen ihr Leben verloren. Hochwasser führte die Reuss auch in den vergangenen 15 Jahren, so 1999, 2005, 2007 und 2013. Hier seien aber 3 Ereignisse aus früheren Jahrhunderten erwähnt.
1408 war die Reuss wohl fast ganz zugefroren. Als gegen den Frühling hin Tauwetter einsetzte und zusätzlich Regen fiel, zerstörten die herunterschwimmenden Eisschollen die Brücke derart, dass sie neu aufgebaut werden musste. Deshalb erlaubte Herzog Friedrich von Österreich den Mellingern, den Brückenzoll zu erhöhen. Dieser war nämlich für den Unterhalt der Brücke bestimmt. ln Mitleidenschaft gezogen wurde damals auch die Bruggmühle unmittelbar oberhalb der Brücke am rechten Reussufer. Bislang war die Mühle direkt vom Reusswasser angetrieben worden. Nach 1408 erbaute man die 1253 erstmals urkundlich erwähnte Mühle etwas landeinwärts. Angetrieben wurde sie seither durch einen Bach, der parallel zur Reuss von der Risi her floss.
Am 19. Mai 1717 zerschellte ein mit 35 Personen besetztes Schiff an einem Pfeiler der Mellinger Reussbrücke. Diese Leute wollten den Markt in Zurzach besuchen. Dabei kamen 23 Menschen in den Fluten um, vor allem Einwohner aus Zug. 7 Personen wurden auf dem hiesigen Friedhof beigesetzt.
Am 22. August 1764 überschwemmte die Reuss die halbe Altstadt. Beim Gasthof Hirschen stand das Wasser 60 cm hoch. Es wird berichtet, dass man damals nur mit dem Schiff zur Antoniuskapelle habe gelangen können. Heute wirkt die Reuss nicht mehr so bedrohlich und düster. Gewiss, vor Hochwassern wird Mellingen nie ganz gefeit sein. Doch schon durch einfache Massnahmen an den reussseitigen Häusern konnte in letzter Zeit das Eindringen des Wassers in die Gebäude minimiert werden. Zudem sind im Freiamt und im Entlebuch bauliche Massnahmen geplant, dass das Wasser bei Alarm in Flutungsräumen zurückgehalten werden kann.

Und in der warmen Jahreszeit liegt über der Reuss oft eine heitere Note, wenn fröhliche Menschen in ihren Paddel- und Schlauchboten auf den Wellen des Flusses den «Hafen» beim Alterszentrum im Grüt ansteuern oder sich am Städtchen vorbei treiben lassen.

Rainer Stöckli



Literatur:
- Gyr Stephan. Zur Geschichte der Reuss-Schifffahrt. Rontaler Brattig 10 (2008), S.77-79.
- Historisches Lexikon der Schweiz: Artikel Baden, Lenzburg, Reuss.
- Hunziker Otto. Mellingen-Dorf. Mellingen 1966, S. 9, 14.
- Köfer Hans. Die kleine Stadt am schwarzen Fluss. Baden 1992.
- Rohr Heinrich. Die Stadt Mellingen im Mittelalter. Aarau 1947, S. 10-12.
- Steigmeier Andreas. Mägenwil und Wohlenschwil. Mägenwil/Wohlenschwil 1993. S. 22-23.
- Stöckli Rainer. Geschichte der Stadt Mellingen von 1500 bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts.
Fribourg 1979 (s. Register).
- Stöckli Rainer. Mellingen, ein bedeutsamer Umschlagplatz für den Salzhandel. Badener
Neujahrsblätter 1985, S.107 - 117.
- Stöckli Rainer. 950 Jahre Kirche Mellingen.
Mellingen 1995, S. 64.
- Zumstein Heinrich. Mellingen 1700-1900. Baden 1992, S. 266.



Bild-Nr.: 39020.a
Bild: Fotoarchiv-Mellingen
Text: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2014
Copyright: Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2014

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