Christian W.

Personen > Einwohner

1908 Der Fall Christian W. - Rainer Stöckli

Legende zum obigen Bild: Das sehr markante Eckhaus von Christian W nach der Explosion. Mellingen verlor damit ein dominantes Eckhaus mit hübschem Gerschilddach, Eckstrebepfeiler und teilweiser Befensterung wohl aus dem 16./17. Jahrhundert. Im ebenfalls vor allem im Firstbereich stark beschädigten und später gegen die Kleine Kirchgasse hin baulich stark veränderten Nachbargebäude befindet sich heute (2008) die Weinhandlung Valvino (Kleine Kirchgasse 2).

Es ist ein tragisches Schicksal, das diesem Text zu Grunde liegt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob denn eine derart erschütternde Geschichte einer historischen Abhandlung würdig sei. Wenn auch nachstehend recht detailliert das Ende eines psychisch kranken Menschen beschrieben wird, so geht es nicht so sehr um Effekthascherei. Vielmehr fällt auf, dass heute ganz ähnlich wie vor 100 Jahren bei solchen Gewalttaten gleiche Fragestellungen auftauchen: Ist es gerechtfertigt, einen psychisch instabilen Menschen mit Gewaltpotenzial lebenslang zu verwahren? Heute wie vor 100 Jahren ist einerseits das Misstrauen gegenüber diesbezüglichen Massnahmen von Behörden und Psychiatrie teilweise recht gross. Tritt dann aber anderseits eine Katastrophe ein, werden gegenüber den gleichen Institutionen harsche Vorwürfe erhoben, weshalb man nicht rechtzeitig eingegriffen und die Lage nicht richtig eingeschätzt habe.

Die Unglücksnacht
Am 12. Mai 1908 morgens ca. um 3 Uhr erschütterte eine heftige Detonation das Städtchen Mellingen. Vorerst nahm man an, der Blitz habe irgendwo eingeschlagen. Doch bald wurde klar, dass sich im Hause von Christian W. eine gewaltige Explosion ereignet hatte. Dieses Haus stand nahe dem Zeitturm an der Ecke Hauptgasse/Kleine Kirchgasse. Der psychisch stark angeschlagene Christian W. hatte in seiner Liegenschaft eine mächtige Dynamit-Sprengladung gezündet. Die ganze Hauptgasse wurde in dichten Pulverdampf gehüllt. Möbelteile, Fenster und Jalousien wurden durch die Gewalt der Explosion gegen den «Löwen» hin geschleudert. Hunderte von Fensterscheiben in der Umgebung gingen in die Brüche. Einen Gast im «Löwen» fielen sogar Scherben ins Bett. Innen stürzte das Haus grösstenteils zusammen. Wände von 80 bis 90 cm Dicke zerbarsten. Die Aussenmauern blieben stehen, wiesen aber besorgniserregende Risse auf. Zudem brach im Innern des Hauses Feuer aus, das jedoch durch die Feuerwehr glücklicherweise rasch gelöscht werden konnte. Auch an weiteren acht Gebäuden entstanden erhebliche Schäden, insbesondere am Nahbarhaus von Uhrmacher Kohler (heute 2008-Gebäude Kleine Kirchgasse Nr. 2). Glücklicherweise erlitt aber kein Bewohner des Städtchens Verletzungen.

Das jähe Ende
Vorerst glaubten alle, Christian W. sei in diesem Inferno unweigerlich umgekommen. Doch um ganz sicher zu sein, stiegen gegen Morgen hin einige Angehörige der Feuerwehr, mit Revolvern bewaffnet, auf Feuerleitern aufs Dach hinauf. Hier kauerte Christian W., drei geladene Pistolen in der Hand, auf dem Dachfirst. Als dieser seine hoffnungslose Lage erkannte, stürzte er sich vom Dach auf das Trottoir der Hauptgasse, wo eine grosse Anzahl Schaulustiger stand. Christian W. war wenige Sekunden später tot. Dies die Version aufgrund des Berichtes im «Reussbote». Im «Badener Tagblatt» wird der Tathergang anders geschildert: Christian W. habe sich in einem unversehrten Zimmer seines Hauses aufgehalten, wo ihn die Polizei verhaften wollte. Doch habe sich W. verbarrikadiert und selbst Warnschüsse hätten ihn nicht zur Aufgabe bewegen können. Plötzlich habe dann aber Christian W. das Fenster geöffnet und sich auf die Strasse gestürzt. Schliesslich findet sich in einer weiteren Zeitungsnotiz eine dritte Version: Bewaffnete Männer seien durchs Haus in die Höhe gestiegen und hätten die Estrichtüre eingeschlagen. Darauf habe Christian W. auf die Eindringlinge geschossen, die das Feuer erwidert hätten. Während dieses Gefechts sei es dann zum tragischen Fenstersturz gekommen.


Ein wohl vorbereiteter Akt

Doch eines steht fest: Christian W. beging dieses Sprengstoffattentat nicht im Affekt. Das Ganze wurde tagelang vorbereitet, Vermutlich in der Absicht, seine Angehörigen, die aber nicht mehr in seinem Hause wohnten, vor Schaden zu bewahren, hatte W. vier Tage vor seiner Verzweiflungstat sein Haus an Frieda Kaufmann in Winterthur verkauft. Auf dem Estrichboden waren Reiswellen aufgeschichtet und Hobelspäne verstreut. Das Bett seiner Ehegattin, die sich aber von Christian W. getrennt hatte, überschüttete dieser mit Petrol.

Offensichtlich beabsichtigte W. neben der Explosion zusätzlich einen Grossbrand auszulösen. Zudem wurde vermutet, der unglückliche Mann habe auch grössere Vermögenswerte ins Ausland transferiert. Diese Frage wird wohl nie endgültig geklärt werden können.



Bild-Nr.: ChW001-04005.8
Bild: Mellinger Städtlichronik 2008 / Fotoarchiv Mellingen
Text: Mellinger Städtlichronik 2008 / Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 2008 / Fotoarchiv Mellingen / Rainer Stöckli

12.05.1908

Der Fall Christian W.: Versuch eines Psychogramms

Wer war dieser Christian W.? Da uns kein psychiatrisches Gutachten über ihn vorliegt, fällt es schwer, die Persönlichkeit von Christian W. genauer zu erfassen. Einzige Quellen sind verschiedene (teilweise tendenziöse) Zeitungsartikel sowie Gemeinderatsprotokolle und diverse Akten. Der am 6. Januar 1844 in Mellingen geborene Christian W. war zweimal verheiratet. Er führte einen Krämerladen an der Hauptgasse. Am aufschlussreichsten ist der eine ganze Seite umfassende Zeitungsbericht von Stadtammann Dr. Peter Hümbelin, den dieser etwa eine Woche nach dem Unglück in vier verschiedenen Zeitungen erscheinen liess.
Als Arzt von Mellingen und Stadtoberhaupt hatte Hümbelin in diesen Fall wohl den intimsten Einblick. Er schrieb: Christian W. «litt an typischen Queurulantenwahnsinn, einer wohlcharakteristischen, gefährlichen und daher forensisch eminent wichtigen Form von Paranoia. Es war ein 'Schulfall', den jeder Anfänger in der Psychiatrie sofort als solchen erkennen musste.» Soweit das Urteil von Dr. Hümbelin. Als Nicht-Fachmann liegt es mir fern, auch nur ansatzweise eine eindeutige nach heutiger moderner psychiatrischer Terminologie gestützte Diagnose zu stellen. Sicher ist aber, dass W. ein sehr berechnender Querulant war, der vor allem immer wieder mit den Behörden in Konflikt stand. Er hatte öfters den Eindruck, von Andern geschädigt zu werden. Hümbelin bezeichnete ihn als gewalttätigen Menschen. Daneben war aber auch eine stark depressive Komponente feststellbar. Diese psychischen Probleme waren den Behörden seit längerem bekannt. Schon zahleiche Jahre vor dem schrecklichen Unglück drohte Christian W. sein Haus in die Luft zu sprengen. Deshalb wurde ihm die Lizenz, in seinem Geschäft Sprengpulver und Munition zu verkaufen, entzogen. Als die Störungen 1902 «einen gemeingefährlichen Charakter» annahmen, verfügte der Gemeinderat die Einweisung in die Psychiatrische Klinik Königsfelden. Die Gerichte stützten den Entscheid des Gemeinderates und eine Fachexpertise bestätigte die Diagnose Hümbelins vollumfänglich. Doch der Aufenthalt in Königsfelden war nur kurz, da W. entwich. Ein noch im gleichen Jahr begangener Suizidversuch machte eine erneute Einweisung in die Klinik notwendig. Wenig später versuchte sich W. zu vergiften. Es folgte ein Aufenthalt im Kantonsspital in Aarau. Es stellte sich erneut die Frage, ob der geplagte Mann danach wieder in Königsfelden zu behandeln sei. Doch ein Anwalt und verschiedene Einwohner von Mellingen verhinderten dies. Allerdings erhielt Christian W. ab 1902 in der Person von Siegfried Widmer einen Vormund.

Mehr

Die Eskalation

Anfang 1906 wurde diese Vormundschaft vom Bezirksgericht Baden aufgehoben. Nun entbrannte ein heftiger Streit zwischen Christian W. und Siegfried Widmer. W. behauptete, Widmer habe in den vier Jahren seiner Vormundschaft mehrere 1000 Franken unterschlagen. Da der Gemeinderat für Widmer Partei ergriff, bezichtigte Christian W. im April 1908 in seiner Klageschrift an die aargauische Staatsanwaltschaft nicht nur Widmer, sondern auch den gesamten Gemeinderat des Diebstahls bzw. der Unterschlagung. Widmer war damals übrigens Friedensrichter des Kreises Mellingen und Betreibungsbeamter der Gemeinde Mellingen. Dass der Gemeinderat diesen ungeheuerlichen Vorwurf nicht auf sich und Widmer beruhen lassen wollte, versteht sich. Man intervenierte bei der Staatsanwaltschaft, die mitteilte, die Akten seien bereits ans Obergericht weitergeleitet worden. Besonders heftige Auseinandersetzung entstanden zwischen Stadtammann Hümbelin und Christian W. So kam es am 7. April zu einem Ehrverletzungsprozess zwischen den beiden vor dem Bezirksgericht Baden. Da noch weitere Zeugen einzuvernehmen waren, konnte der Fall noch nicht abgeschlossen werden. Am 8. Mai verkaufte W. sein Haus; seine Frau drohte ihm in der Folge die Scheidung an. Alle diese Faktoren haben schliesslich zu der Verzweiflungstat vom 12. Mai geführt. Übrigens: Am 2. Juni stellte das Bezirksgericht Baden den Ehrverletzungsprozess ein, da ja W. verstorben war. Hümbelin hatte schliesslich noch das «Vergnügen», eine Gerichtsgebühr von Fr. 5.50 entrichten zu müssen. Auch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden nach wenigen Wochen eingestellt.

Schuldzuweisungen

Nach dem Unglück wurden die Behörden teilweise scharf angegriffen, weshalb es zu diesem Unglück kommen konnte. Deshalb sah sich Stadtammann Hümbelin gezwungen, in der Presse die Sicht der Stadtregierung in verschiedenen Zeitungen zu publizieren: Es sei dem Gemeinderat nicht verborgen geblieben, dass die Angelegenheit in letzter Zeit stark eskaliert sei. Deshalb habe man in Erwägung gezogen, Christian W. wieder zu bevormunden und die Einweisung in eine Heilanstalt zu veranlassen. Da aber immer noch der Streit von W. mit seinem ehemaligen Vormund Siegfried Widmer hängig gewesen sei, habe man vorderhand davon abgesehen. Denn man habe sich nicht den Vorwurf zuziehen wollen, durch solche Massnahmen ein rechtliches Verfahren abgewürgt zu haben.
Er, Hümbelin, sei Christian W. nie aus dem Wege gegangen, habe ihn immer scharf im Auge behalten, aber «allein nichts Drohendes wahrnehmen können». Befremdet zeigte sich der Stadtammann, weil man ihm nicht gemeldet habe, «dass der Mann schon vor 14 Tagen nächtlicherweise im Hause geschossen und sonst vielfach eine drohende Haltung angenommen hatte... Wo waren denn um Himmelswillen zu dieser Zeit die Alleswisser von Mellingen und der Enden? Warum haben sie der Behörde ihre Beobachtungen nicht mitgeteilt? Wäre das geschehen, so sässe der Kranke heute gesichert in Königsfelden und Mellingen wäre von der Schreckenstat verschont geblieben.» Mit Entschiedenheit widersprach Hümbelin seinen politischen Gegnern, das Unglück sei einzig durch die Streitigkeiten zwischen Christian W. und seinem ehemaligen Vormund Siegfried Widmer ausgelöst worden. Im «Reussthaler», dem in Baden erscheinenden Konkurrenzblatt des «Reussbote», wurde aber an der Behauptung festgehalten, Widmer habe als Vormund viele 1000 Franken unterschlagen. Um einer Strafe zu entgehen, hätten Widmers Freunde Bürgschaft geleistet und diesem auch Geld vorgeschossen. Schon am 31.März hatte das Bezirksgericht Baden auf die Klagen des Christian W. hin entschieden, Widmer sei in seinen Ämtern als Friedensrichter und Betreibungsbeamter zu suspendieren. Doch reichte das Bezirksgericht den Fall zur endgültigen Beurteilung ans Obergericht weiter. Dieses konnte aber, wie aus einem Bericht vom 19. Mai ersichtlich ist, kein schuldhaftes Verhalten Widmers erkennen, weshalb dieser seine Ämter weiterhin ausüben könne. Der «Reussthaler» bezeichnete dies als Justizirrtum. Widmer sei als Friedensrichter nicht mehr tragbar. Aus verschiedenen Artikeln, die in letztgenannter Zeitung erschienen sind, wird ersichtlich, wie sehr vor 100 Jahren das politische Klima in Mellingen vergiftet war.


Der Abbruch des Gebäudes

Beinahe an eine Seldwylerei gemahnt der Abbruch des stark einsturzgefährdeten Hauses. Dieses bildete für die öffentliche Sicherheit eine grosse Gefahr. Es vergingen nämlich rund sechs Wochen, bis die Abbrucharbeiten vollendet waren. Denn der Verursacher dieses Zerstörungswerks war tot; dessen finanzielle Hinterlassenschaft war nicht auffindbar. Der neuen Besitzerin, Frieda Kaufmann, die nicht sehr vermögend war und das Haus erst vier Tage vor dessen Zerstörung gekauft hatte, konnten die Abbruchkosten nicht gut auferlegt werden. Deshalb musste die Gemeinde die Abbruch- und Sicherungskosten, die mehr als 3000 Fr. ausmachten, vorstrecken. Eine solche Summe war für die damals sehr finanzschwache Gemeinde kein Pappenstiel. Zuerst betraute der Gemeinderat Baumeister Louis Mäder von Baden mit einer Expertise, wie das Gebäude abzureissen sei. Denn es musste auch darauf Rücksicht genommen werden, dass das nebenstehende Haus von Uhrmacher Kohler, das insbesondere im Firstbereich ebenfalls stark mitgenommen war, nicht zusätzlichen Schaden erlitt. Doch als die Mellinger nicht vorwärts machen wollten, erliess der Regierungsrat am 30. Mai eine Abbruchverfügung. Am 4. Juni erschien der Polizeidirektor, Regierungsrat Max Schmidt, persönlich an der Unglücksstelle und mahnte zur Eile. Doch die Mellinger liessen sich nicht allzu stark drängen. Man schrieb die Abbrucharbeiten öffentlich aus. Aus den drei Offerten wurde jene des Mellinger Baumeisters Jean Macchi berücksichtigt: Dieser erhielt am 12. Juni den Auftrag, den Abbruch laut Expertise Mäder vorzunehmen. Ende Juni waren die Arbeiten vollendet. Bis im Herbst war sich aber Frieda Kaufmann nicht im Klaren, ob das Haus wieder aufgebaut werden sollte. Aber die Nachkommen von Christiän W., d.h. dessen Gattin und die zwei Kinder aus erster Ehe, eine in Zürich lebende Tochter und ein nach Amerika ausgewanderter Sohn, schlugen das Erbe aus. Bezüglich der Hinterlassenschaft des Christian W. wurde ein Konkursverfahren eingeleitet. Frieda Kaufmann konnte also von dieser Seite nichts erwarten. Sie erhielt aber eine ansehnliche Summe von der Brandversicherungsanstalt zugesprochen. Mellingen wollte nun durch Bezirksgerichtsentscheid erwirken, dass Kaufmann die der Gemeinde erwachsenen Kosten von über 3000 Fr. bezahle. Doch kam es schliesslich zu einem gütlichen Vergleich, wonach Frieda Kaufmann Mellingen 2700 Fr. bezahlte. Diese wiederum entschloss sich, das Haus nicht mehr aufzubauen, und verkaufte den Hausplatz für 700 Fr. an die Gemeinde. Mellingen verlor durch diese Explosion eines seiner stattlichsten Bürgerhäuser, gewann aber einen wesentlich breiteren Zugang von der Hauptgasse in die Kleine Kirchgasse.


Quellen:
--Staatsarchiv Aargau: Protokolle des Regierungsrates; Protokolle des Bezirksgerichtes Baden
- Stadtarchiv Mellingen: Gemeinderatsprotokolle,
Gemeindeversammlungsprotokolle, Gemeinderatsakten
- Texte aus folgenden Zeitungen: Der Reussbote, Aargauer Tagblatt, Badener
Tagblatt, Schweizer Neue Presse, Der Reussthaler


Bild-Nr.: ChW002
Bild: Mellinger Städtlichronik 2008 / Fotoarchiv Mellingen
Text: Mellinger Städtlichronik 2008 / Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 2008 / Rainer Stöckli / Fotoarchiv-Mellingen

12.05.1908

Das Haus des Christian W im Jahre 1905

Es ist das letzte linksseitige giebelständige Haus vor dem Zeitturm, dessen mächtiges Dach und dessen Fassade mehr als die anderen Häuser in der Hauptgasse hineinragen.


Bild-Nr.: ChW003-04004.0.1
Bild: Mellinger Städtlichronik 2008 / Fotoarchiv Mellingen
Text: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2008
Copyright: Rainer Stöckli / Mellinger Städtlichronik 2008 / Fotoarchiv-Mellingen

12.05.1908