1877 - Die Tragödie um die Nationalbahn - Albert Nüssli/Rainer Stöckli

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1877 - Mellinger Chronik 2002 - Vor 125 Jahren: Die Tragödie um die Nationalbahn -

Bild:
Lehrgerüst der Eisenbahnbrücke über die Reuss beim Bau der Nationalbahn 1877


Das Reusstal als ideale Nord-Süd-Verbindung

Die Reuss entspringt zwar im Gebiet des Gotthardmassivs und es wäre denn eigentlich naheliegend, dass dieses einzige grössere Flusstal, das unser Land recht präzis in süd-nördlicher Richtung durchquert und die Nordschweiz in zwei Hälften teilt, rein topographisch für wichtige Strassen- und Bahnbauten prädestiniert gewesen wäre. Während das enge Urner- Reusstal heute in richtiggehend schmerzlicher Weise durch Gotthardbahn, Neat und Autobahn massiv überbelegt ist, finden sich im unteren ReusstaI, von Luzern bis Stilli, keine Strassenverbindung von nationaler Bedeutung. Und das untere Reusstal ist auch das einzige grössere Tal der Schweiz, das nicht von einer Eisenbahnlinie durchfahren wird. Dass dem so ist, hat seine geschichtlichen Hintergründe.

Als 1811 der Engländer George Stephenson die erste Dampflokomotive baute, ahnte er wohl nicht, welche Verkehrsrevolution er damit auslöste. Doch erst 1847 dampfte in der Schweiz die erste Eisenbahn von Zürich nach Baden. Auch in Mellingen erkannte man schon damals die Bedeutung dieses neuen Verkehrsmittels. Als sich nämlich abzeichnete, dass sich vor allem in Zürich und Basel die Macht der Eisenbahnbarone konzentrierte, wandte sich 1843 Mellingen mit anderen Gemeinden des unteren Reusstals, des Limmattals und des unteren Aaretals in einer Petition an den Grossen Rat, der Aargau solle die Interessen unseres Kantons genügend wahrnehmen. Doch spielten in den folgenden Jahrzehnten sowohl Regierung als auch Parlament in der Eisenbahnpolitik eine eher schwache Rolle.

Die Reusstalbahn

Wie schon seit dem Mittelalter der Gotthardpass für den Nordsüdverkehr von grosser Bedeutung war, erkannte man auch im Bahnzeitalter die Attraktivität eines Bahndurchstichs durch den Gotthard. Als sich in den 1870er Jahren dieses Projekt zu konkretisieren begann und man die 1875 eröffnete Bözbergbahn baute, versprach sich das Reusstal grosse Chancen, dass sein Gebiet die ideale und direkteste Verbindung von Brugg zum Gotthard anbieten könnte. So wurde I871 das Projekt einer Reusstalbahn lanciert, das folgende Trasseführung vorsah: Brugg – Birrfeld – Wohlenschwil/Mellingen – Niederwil – Bremgarten – Rottenschwil – Merenschwand – Sins – Oberrüti – Dietwil – Inwil – Emmen - Luzern. In einer anderen Variante plante man die Reusstalbahn in Mettmenstetten oder Affoltern mit der Reppischtalbahn zu verbinden. Im eigens dazu gebildeten Komitee sassen aus Mellingen Gemeindeammann Marin Saxer und Gemeinderat Bumbach-Lüthy.
Am 22. Oktober 1871 beschloss die Gemeindeversammlung in Mellingen, Aktien im Betrag von 200 000 Fr. zu zeichnen, «mit der Bedingung, dass die Bahn in unmittelbarer Nähe von Mellingen vorbeigeführt, und eine nahe, bequem gelegene Station errichtet werde».
Mit der geplanten Reusstalbahn erwuchs aber der sogenannten «Südbahn» (Aarau – Lenzburg – Muri – Rotkreuz – Arth - Goldau) Konkurrenz. Projektiert wurde die Südbahn von den beiden damals mächtigsten Eisenbahngesellschaften der Schweiz, der Nordostbahn und der Zentralbahn. Diese versuchten deshalb die Realisierung einer Reusstalbahn mit allen Mitteln zu hintertreiben und anerboten sich, eine Stichbahn von Wohlen aus nach Bremgarten zu bauen. Bremgarten, das sich am meisten für die Verwirklichung einer Reusstalbahn eingesetzt hatte, war befriedigt, wurde die Stadt nun doch anderweitig ans Nord-Süd-Netz angebunden. Damit war das Schicksal der geplanten Reusstalbahn besiegelt.

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Der Bau der Nationalbahn

Darauf versuchte Mellingen, wenigstens auf der Ost-West-Achse zu einem Bahnanschluss zu kommen. Gelegenheit dazu bot die Nationalbahn. Diese von Winterthurer Politikern dominierte Bahngesellschaft plante neben der sogenannten «Herrenbahn» unter der Federführung des Zürcher «Eisenbahnbarons» Alfred Escher (Linie St. Gallen – Winterthur – Zürich – Baden – Aarau – Olten – Bern - Westschweiz) eine «Volksbahn» zu bauen, die ebenfalls das ganze Mittelland zwischen Boden- und Genfersee) durchziehen sollte, allerdings abseits der grossen Städte. Da sich aber die Konzessionserteilung durch den Bund in die Länge zog, wurde wie an anderen Orten am 17. November 1872 zu einer Volksversammlung nach Mellingen eingeladen, welche sich einmütig für die Realisierung der Nationalbahn aussprach. Zu dieser Zusammenkunft hatte das «Engere Komitee der schweiz. Nationalbahn, Sektion Winterthur - (Mellingen) – Zofingen» eingeladen; diesem gehörte auch der Mellinger Gemeindeammann Saxer an. 1873 wurde der Bahn schliesslich die Konzession erteilt. Zuerst wurde der Ostast von Winterthur nach Singen und nach Konstanz - Kreuzlingen gebaut und 1875 in Betrieb genommen. Länger ging es mit dem Westast, der von Winterthur über Kloten -Zürich – Seebach – Regensdorf – Otelfingen – Würenlos – Wettingen -Baden – Oberstadt – Dättwil -Mellingen – Mägenwil – Othmarsingen – Lenzburg - Suhr nach Zofingen führte und einen Seitenast nach Aarau vorsah. Gar nicht realisiert wurde eine dritte Etappe von Zofingen – Langenthal – Herzogenbuchsee nach Lyss, die im Projektierungsstadium stecken blieb.

Am 2. Februar 1873 beschloss die Gemeindeversammlung Mellingen sich an der Nationalbahn mit einem Aktienkapital von 300 000 Fr. zu beteiligen. Bedingung war, dass im Bereich des Birch eine Güterstation errichtet werde. Vier Monate später, am 26. Juni 1873, wurde erneut eine Gemeindeversammlung einberufen, da der Finanzbedarf der Nationalbahn infolge Erweiterung des Streckennetzes angestiegen war. Für Mellingen wurde ein Beteiligungskapital von einer halben Million errechnet. Es wurde beschlossen, Aktien für 400 000 Fr. zu zeichnen. Es war ein schicksalhafter Entscheid, als Ende 1873 beschlossen wurde, bei der Aargauischen Bank einen Betrag von 500 000 Fr. aufzunehmen, unter Verpfändung des Bürgergutes, umfassend 277 Jucharten offenes Kulturland und 452 Jucharten Wald. An die Gesamtkosten des Streckenabschnittes Winterthur - Zofingen von 16,4 Millionen Franken hatten die Aargauischen Gemeinden 4 Millionen zu leisten. Zofingen hatte eine Million zu entrichten, je 500 000 Fr. entfielen auf Lenzburg, Mellingen und Baden. Aus unserer Region wurden Mägenwil mit 50 000 Fr., Wohlenschwil 30 000 Fr., Büblikon 20 000 Fr.,
Fislisbach 50 000 Fr., Niederrohrdorf 30 000 Fr., Oberrohrdorf und Stetten mit je 10 000 Fr. zur Kasse gebeten.

Infolge Fusion der Nationalbahn mit der Linie Kreuzlingen - Singen und des Defizits der 1875 eröffneten Linie Winterthur - Kreuzlingen musste die Nationalbahn erneut 1,8 Millionen auftreiben. Damit die Bahn nicht in Liquiditätsschwierigkeiten geriet und nicht die Baueinstellung des Westastes drohte, musste Mellingen am 19. Mai 1876 wohl oder übel weitere 10 000 Fr. einschiessen. Da verschiedene Grundstücke der Bürgergemeinde zudem zu
42 000 Fr. schon anderweitig verpfändet waren, sah sich Mellingen gezwungen, damit keine Doppelverpfändung entstand, neben Wald und Kulturland für die bei der Bank ausgeliehenen 500 000 Fr. zusätzlich die Reussbrücke sowie das Gemeinde-, Schul- und Pfarrhaus zu verpfänden.

Der Konkurs der Nationalbahn

Im Herbst 1877 wurde der Westast der Nationalbahn eröffnet und somit auch Mellingen ans Bahnnetz angeschlossen. Doch der damalige Gemeindeammann, J. M. Saxer, der sich immer vehement für die Sache der Nationalbahn eingesetzt hatte, trat gerade in diesen Tagen nach 20-jähriger Amtszeit von seinem Posten zurück. Offenbar ahnte er schon Schlimmes. Verbittert schied er aus eigenem Willen aus dem Leben. Über die näheren Umstände dieses tragischen Ereignisses sind wir aber nicht genau unterrichtet.

Der Start der neuen Bahnlinie, deren Bau wegen der Querung zahlreicher Täler - so auch in Mellingen mit der 60 m hohen Reussbrücke - grosse Summen verschlang, war denkbar schlecht.

Schon beim Bau waren immer wieder finanzielle Engpässe entstanden. Da nicht alle Gemeinden ihren finanziellen Verpflichtungen nachgekommen waren, konnte die Bahn bald nicht mehr ihre Gläubiger befriedigen. Die Sitzplätze waren nur zu 17 bis 20 Prozent ausgelastet. Im Gegensalz zur Nordostbahn Zürich – Baden – Brugg - Aarau konnte die Nationalbahn auch viel weniger Güter transportieren. Während in den Emissionsprospekten noch 10 500 Fr. Gewinn pro Bahnkilometer vorgegaukelt wurde, musste 1877 ein Defizit von 3420 Fr. pro Kilometer ausgewiesen werden. Die Lage der Bahn war derart prekär, dass das Bundesgericht bereits am 18. Februar 1878 auf Drängen der Gläubiger den Konkurs über die Bahn verhängte. Um nicht völlig leer auszugehen, entschloss sich ein Komitee von 29 Anliegergemeinden - darunter auch Mellingen - die Bahn selbst zu ersteigern. So wurde die Nationalbahn, welche insgesamt rund 33 Millionen Franken gekostet hatte, am 30. August 1879 für 4,4 Mio Fr. diesem Komitee zugeschlagen. Doch auch diese Summe konnte nicht aufgebracht werden, sodass die Nationalbahn 1880 für 3,9 Mio Fr. von der Nordostbahn erworben werden konnte. Damit war die Nationalbahn für einen Spottpreis ausgerechnet an ihren Gegner übergegangen.

Mellingen stand vor einem riesigen Schuldenberg von weit über 500 000 Fr., was heute etwa einem Kaufwert von 25 Millionen Franken entsprechen würde. Zur totalen Katastrophe kam es, als die halbjährlichen Zinsquoten von 12 000 Fr. zu laufen begannen. Trotz verzweifelter Anstrengung war es für die Gemeinde nicht möglich, diese Summe aufzubringen. Als die Aarg. Bank nicht zögerte, für ihre Zinsguthaben das Betreibungsverfahren einzuleiten, beschloss die Gemeinde auf Vorschlag des sogenannten Dreierkomitees, welches schon zur Zeil von Ammann Saxer dem Gemeinderat als Stütze beigegeben worden war, Rechtsvorschlag zu erheben. In ihrer Not wandte sich die Gemeinde an den Regierungsrat um Vermittlung. Doch dieser, der nur eine einzige Aktie der Nationalbahn gezeichnet hatte, zeigte Mellingen die kalte Schulter. Er riet Mellingen, vom Rechtsvorschlag abzusehen, mit anderen Worten dem Konkursverfahren freien Lauf zu lassen.
Während die sogenannten «Garantiestädte» der Nationalbahn - Zofingen, Lenzburg, Baden und Winterthur – gewisse Unterstützung vom Bund und die Zürcher Gemeinden von Seiten ihres Kantons erhoffen durften, blieb Mellingen als einzige Gemeinde, welche sich, gemessen an ihrer Bevölkerung, finanziell mit einer sehr hohen Summe engagiert hatte, im Regen stehen. Damit die Stadt politisch nicht ins totale Chaos versank, ernannte der Regierungsrat in der Person von Bezirksamtmann Marti von Othmarsingen für Mellingen einen Administrator, der es durch sein konziliantes Wesen fertig brachte, dass sich überhaupt noch Männer in die Behörde wählen liessen, um aus dieser Tragödie einen Ausweg zu finden.

In der Zwischenzeit war nämlich die Schuld inklusive Zinsen auf Fr. 556 811.50 gestiegen. Aargauer Regierung und Aarg. Bank einigten sich schliesslich dahin, dass am 9. August 1881 der Kanton für 290 000 Fr. sämtlichen Wald und die Aarg. Bank für Fr. 266 81I.50 alles der Bürgergemeinde gehörende Kulturland übernahm.
Nachdem Mellingen schon in der Helvetik (1798-1803) finanziell ausblutete, widerfuhr unserer Gemeinde keine 80 Jahre später nochmals das gleiche Schicksal. Es währte wieder Jahrzehnte, bis sich unser Städtchen von diesem Schock einigermassen erholt hatte. Im Besitz der Bürgergemeinde blieb bis auf den heutigen Tag nur noch die Reussfischenz.
Sämtliches Kulturland, aller Wald ging verloren. Und als bei einem Gesangsfest der Mellinger Männerchor das Lied «Wer hat dich du schöner Wald» anstimmte, tönte es aus dem Publikum: «d' Bank».
Nun, vielleicht darf die Bürgergemeinde heute froh sein, nicht mehr für die aufwändige Waldbewirtschaftung verantwortlich zu sein. Und wenn in wenigen Jahren die S-Bahn von Zürich in der neuen Haltestelle Mellingen ausgangs des Heitersbergtunnels anhält und dann teilweise auf dem ehemaligen Trasse der Nationalbahn nach Aarau weiterrollt, wird unser Städtchen vielleicht für das Ungemach, das ihm vor 125 Jahren widerfahren ist, ein wenig entschädigt.

Albert Nüssli/Rainer Stöckli



Bild-Nr.: 13001
Bild: Fotoarchiv Mellingen
Text: Albert Nüssli/Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2002
Copyright: Albert Nüssli/Rainer Stöckli/Mellinger Städtlichronik 2002

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