2000 - Mellingen im 2. Jahrtausend - Teil 3, Rainer Stöckli

Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991

2000 Mellingen im 2. Jahrtausend - 3. Teil

Bild: Ein Bündel Nationalbahnaktien. Die nach dem Konkurs wertlos gewordenen Aktien haben heute bloss noch Sammlerwert. Standort: Ortsmuseum Mellingen.

Der 22. Mai 1712 und der 14. März 1798 waren die Eckdaten des
18. Jahrhunderts (1701-1800).
Am 22. Mai 1712 zwangen 12 000 Zürcher- und Bernertruppen die kleine Besatzung, welche die kath. Orte im Städtchen einquartiert hatte, unsere Gemeinde fluchtartig zu verlassen. Mit der zweiten Schlacht bei Villmergen endete auch die Vorherrschaft der kath. Orte über die Gemeinen Herrschaften, und damit auch über Mellingen.
Von jetzt an hatten nur noch die beiden reformierten Städte Zürich und Bern sowie das paritätische Glarus das Sagen. Bemerkenswert ist aber, dass die praktisch nur aus Katholiken bestehende Bevölkerung Mellingens keineswegs unter der reformierten Herrschaft zu leiden hatte. Im Gegenteil: Aus keiner Zeit sind uns derart rauschende religiöse Veranstaltungen mit viel barockem Pomp wie etwa die Hilariafeier von 1756 oder die Firmtage vom 18. bis 20. Juli 1791 bekannt. Die Jahre zwischen 1712 und 1798 waren auch die friedlichste Phase, die Mellingen als Stadt je erlebt hatte. Handel und Gewerbe entwickelten sich erfreulich. Und 1786 wurde gar eine eigene Handwerkerzunft gegründet. Den ausgebildeten Handwerksgesellen wurden prächtige Gesellenbriefe mit hübschen Abbildungen der Stadt überreicht. Bekannt wurde unsere Gemeinde auch durch die bedeutende Künstlerdynastie der Widerkehr. 1794 liess man durch Werkmeister Joseph Ritter von Luzern eine pfeilerlose Brücke, eines der technisch ausgeklügeltsten Bauwerke jener Zeit, errichten.
Am 14. März 1798 fand diese Idylle ein abruptes Ende: Unter dem Druck des Franzoseneinmarsches verzichtete Mellingen widerwillig auf all seine städtischen Rechte und wurde eine Gemeinde wie alle Dörfer ringsumher. Über die Leiden, die Mellingen in der Helvetik zwischen 1798 und 1803 zu erdulden hatte, sind wir durch die Texte in den Städtlichroniken 1998/99 hinlänglich orientiert.

Das 19. Jahrhundert (1801-1900):
Nachdem Mellingen 1798 auf alle städtischen Privilegien verzichtet hatte und 1803 aus den helvetischen Wirren finanziell und wirtschaftlich geschwächt hervorgegangen war, hofften unsere Behörden, wenigstens Hauptort eines Bezirks zu werden. Neun Bezirkshauptorte des neuen Kantons Aargau waren nämlich ehemalige Städte; einzig Kaiserstuhl, Klingnau, Aarburg und Mellingen gingen leer aus. Mellingens bisherige Zentrumsfunktion büsste stark ein.
So entwickelte sich unsere Gemeinde in der ersten Jahrhunderthälfte nur mehr wenig. Neue Impulse brachten die nächsten 50 Jahre: 1862 wurde die Bezirksschule gegründet und 1897 an der Bahnhofstrasse ein stattliches Schulhaus gebaut. Die drei Mühlen im Gemeindegebiet rechts der Reuss wurden zu Textilunternehmen umfunktioniert. Gegen Ende des Jahrhunderts nahm die Ziegelei Biland im Bahnhofgebiet ihre Tätigkeit auf. Doch der sachte wirtschaftliche Aufschwung wurde einmal mehr gebremst. Wieder setzte Mellingen auf die falsche Karte: Mit 400 000 Franken - was heute etwa einem Kaufwert von 20 Millionen Franken entspricht - engagierte sich die Gemeinde durch Zeichnung von Aktien am Bau der Nationalbahn (s. Abbildung), die aber 1878, ein Jahr nach der Eröffnung, den Konkurs anmelden musste. Wieder stand Mellingen vor einem finanziellen Desaster und musste sämtlichen Wald und allen übrigen Landbesitz verkaufen.

Das 20. Jahrhundert (1901-2000)
ist geprägt von einem gewaltigen Entwicklungsschub. Die Schülerzahl stieg dank Kreisoberschule von 150 auf 900 Schüler. In der zweiten Jahrhunderthälfte mussten drei neue Schulhäuser gebaut werden. Die Einwohnerzahl vervierfachte sich von 1000 auf über 4000 Bewohner. Im Gheid entstand eine eigentliche Satellitenstadt ohne soziale und wirtschaftliche Infrastruktur. Wenn wir den fein durchstrukturierten, vor 700 Jahren entstandenen Altstadtkern mit der innerhalb weniger als 50 Jahren entstandenen Häuseransammlung im Gheid vergleichen, so darf man sich füglich fragen, ob unsere Stadtgründer im 13. Jahrhundert nicht fast mehr von Siedlungsplanung verstanden als wir heutigen Menschen, die vor lauter Wachstumseuphorie das Wesentliche nicht mehr sehen.

Auch im 20. Jahrhundert
entwickelte sich die Industrialisierung sachte weiter. Doch fällt auf, dass verschiedene bedeutende Industriezweige, wie die 1904 gegründete Firma Kappeler, die spätere Argovia (einst mit 250 Arbeitnehmern der grösste Betrieb), die Ziegelei, die Kartonagefabrik und die Compactus-Werke, welche insbesondere platzsparende Archivanlagen bauten, bereits nicht mehr existieren. Entstanden sind aber zahlreiche mittlere und kleinere Unternehmen und Gewerbebetriebe. Doch ist Mellingen eher eine Wohn- als eine Gewerbe-Gemeinde. 1980 betrug die Zahl der Arbeitsplätze in Mellingen 1116, während in der Gemeinde 1639 Erwerbstätige lebten. Erfreulich ist, dass sich Mellingen in den letzten 50 Jahren wieder vermehrt zu einer Zentrumsgemeinde einer Kleinregion entwickelte. Ein vielseitiges Gewerbe, Arztpraxen, Hallenbad, Sportanlagen, Alters- und Pflegeheim, Bibliothek, verschiedene Säle und die Bündelung zahlreicher Postautolinien wirkten sich positiv aus. Doch muss Mellingen am Ball bleiben, sich seiner wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung in einer landschaftlich reizvollen Umgebung bewusst sein.

Wäre es nicht sinnvoll, in einem kleinen, professionell aufgemachten Prospekt oder im Internet für unser Städtchen etwas Werbung zu machen? Denn Mellingen besitzt unzweifelhaft ein gewisses touristisches Potenzial. Es fruchtet nichts, die Hände resigniert in den Schoss zu legen, gefragt sind Visionen...


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Bild: Mellinger Städtlichronik 2000
Text: Mellinger Städtlichronik 2000/Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 2000

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