1798 - Mellingen in der Helvetik Teil 2, Rainer Stöckli

Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991

1798 - Mellingen in der Helvetik Teil 2, Rainer Stöckli

In der letztjährigen «Städtlichronik» sind wir der Frage nachgegangen, warum Mellingen ein schlechter Nährboden für die Revolution war, und haben dargelegt, unter welchen Umständen das Städtchen die neue Ordnung annahm und welche Rolle die Gemeinde bei der Bildung des helvetischen Kantons Baden spielte. Hier nun wollen wir über die zahlreichen Einquartierungen während der Helvetik und die sich daraus ergebenden finanziellen Konsequenzen berichten und
noch einige weitere Aspekte beleuchten, welche das helvetische Regierungssystem für die Stadt mit sich brachte.

Einquartierungen
Mellingen verdankt seine Entstehung als Stadt vor allem seiner strategisch wichtigen Lage an der Reuss. Auch in der Helvetik war unsere Gemeinde für die französischen und helvetischen Truppen ein bedeutender Stützpunkt. Neben Baden war Mellingen die einzige Ortschaft im Kanton Baden, in der meist ein französischer Platzkommandant stationiert war. Diese Einquartierungen belasteten den Gemeindehaushalt und auch die Bürger enorm. Schon im Mai 1798, als der Kanton Baden konstituiert wurde, liefen aus Mellingen Klagen über
die häufigen Einquartierungen und die immensen Lebensmittel- und Futterlieferungen ein.
Einer Rechnung von 1798 entnehmen wir, dass sich die ordentlichen Gemeindeausgaben auf 15 886 Gulden beliefen. Für die einquartierten Franzosen gab man mit 15 681 Gulden fast ebenso viel aus. Dass dadurch der städtische Finanzhaushalt total aus den Fugen geriet und man deswegen öffentlichen Grundbesitz und den gesamten Stadtschatz mit Ausnahme des sogenannten Zwinglibechers veräussern musste, ist mehr als verständlich. In einem in deutsch und französisch abgefassten, gedruckten Schreiben (s. Abbildung) teilte am 1. September 1798 Platzkommandant Teuillères - dieser hatte das Kommando sicher vom Juni bis September in Mellingen inne - der Gemeinde mit, dass die im Städtchen einquartierten Truppen das Recht hätten, mit «Bett, Salz, Licht und Holz» versehen zu werden. Wie viele Tausend Militärpersonen Mellingen in den fünf Jahren der Helvetik zu beherbergen hatte, wird wohl nie eruiert werden können. Dabei fällt auf, dass unsere Stadt von diesen Einquartierungen viel massiver betroffen war als die umliegenden Gemeinden. In einer Zusammenstellung vom Februar 1799 lesen wir, Mellingen habe für die französischen Truppen 35 836 Fr., Tägerig hingegen bloss 2764, Mägenwil 3590,
Büblikon 1652 und Wohlenschwil 2594 Fr., also insgesamt 46 436 Fr. ausgegeben. Als die Gemeinden um die Vergütung dieser enormen Summe baten, beschloss die helvetische Regierung, einstweilen mickrige 2000 Fr. bereitzustellen. Begreiflich, dass dies die Bevölkerung nicht eben animierte, sich für die Sache der Revolution zu engagieren.

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Besonders als im Jahre 1799 der zweite Koalitionskrieg, in welchem sich hauptsächlich Österreich und Russland einerseits und Frankreich anderseits bekämpften, teilweise auf eidgenössischem Boden ausgetragen wurde, litt unsere Gegend immens. So wurden am 6. Mai 1799 300 österreichische Kriegsgefangene in Mellingen einquartiert, am 26. Mai folgten weitere 200. Die Front zwischen österreichisch/russischen und französischen Truppen verlief im Sommer 1799 vom Zürichsee her das Limmat- und Aaretal hinunter, die Franzosen im Westen, ihre Gegner im Osten.
Mellingen war daher eine der Ausgangsbasen der französischen Armee für die beiden Schlachten bei Zürich: Während am 4./5. Juni 1799 der französische General Masséna den Österreichern unterlag, errang er am 25. September einen grossartigen Sieg über die Russen. In dieser Zeit wurden für die französischen Truppen ausserhalb des Städtchens grosse Barackenlager - vielleicht lag
eines beim heutigen «Franzosenhügel» - errichtet. Am 6. Juni zogen sich nach der Niederlage von Zürich rund 2000 Mann in die Gegend von Mellingen zurück.
Bei dieser Aktion wurde die Holzbrücke von Wettingen eingeäschert, und Regierungsstatthalter Weber von Baden befürchtete, dass der Brücke von Mellingen, diesem «Meisterwerk schweizerischer Brückenbaukunst», das gleiche Schicksal blühen könnte. Zum Glück kam es dann aber nicht soweit. Am 18. September fand in Mellingen eine Zusammenkunft mehrerer französischer Generäle statt; es ist zu vermuten, dass damals wichtige Entscheide gefällt wurden, die dann zum Sieg vom 25. September führten.

Auch in den kommenden Jahren wurde Mellingen von Einquartierungen nicht verschont. Im März 1801 weilte beispielsweise polnische Artillerie im Städtchen. Als man im Herbst 1802 in der Eidgenossenschaft wieder zur alten rechtlichen Ordnung, wie sie vor der Helvetik bestanden hatte, zurückkehrte, reagierte Frankreich rasch. Im Oktober marschierten erneut französische Truppen in die Schweiz ein, und Baden und Mellingen erhielten wieder grössere Verbände
zugeteilt. An beiden Orten richtete man zur Versorgung der Truppen Magazine ein und übertrug die Verantwortung an Kommissäre. In Mellingen versah dieses schwierige Amt der einheimische Kaspar Ludwig Netscher (1767 -1832).

Schwierige Lage für die Bürgerschaft
Zahlreiche Offiziere und Soldaten wurden in den Gasthäusern der Stadt oder bei Privatpersonen einquartiert. Entschädigt wurden aber die Gastgeber im seltensten Fall mit barer Münze. Vielmehr erhielt man Einquartierungsscheine oder sogenannte «Bons», in welchen bescheinigt wurde, wie viele Personen und Pferde wie viele Tage beherbergt und verköstigt worden seien. (Zwei Bündel solcher Einquartierungsscheine sind als Umschlagsbild auf der «Städtlichronik 1998» zu sehen.) Gegen Vorweisung dieser «Bons» bei den zuständigen Militärbehörden hätten die aufgelaufenen Kosten geltend gemacht werden können. Angesichts der Tatsache, dass auch jetzt noch viele Hunderte solcher Scheine im Stadtarchiv lagern, muss angenommen werden, diese Kosten seien bis auf den heutigen Tag nicht beglichen worden. Die Bevölkerung verarmte deshalb immer mehr. Im Januar 1800 bat Mellingen die Kantonsregierung, von weiteren Einquartierungen abzusehen. Nicht selten komme es vor, dass Bürger ihre eigenen Häuser verlassen müssten, um den Soldaten Logis geben zu können. Zudem seien die Lebensmittel äusserst knapp geworden. Dies hatte einen zweifachen Grund: Einerseits waren zusätzlich Soldaten zu verköstigen,
anderseits vernehmen wir im Juni 1799, die Franzosen hätten riesige Flurschäden angerichtet, weshalb ein Teil der Ernte vernichtet worden war. Aber nicht nur für die Verpflegung in den eigenen Gemarkungen war man zuständig. So forderte die Verwaltungskammer in Baden am 18. August 1799 - also vor der zweiten Schlacht bei Zürich - die Mellinger auf, dem Militär in Rudolfstetten 400 Pfund Fleisch zuzuschicken. 1798 und 1799 wurde Mellingen verpflichtet, viele Klafter Holz ins Militärspital nach Königsfelden zu liefern. Ein Verzeichnis vom 24. Oktober 1799 illustriert die sehr prekäre Lage in der Stadt: Darin wird festgehalten, dass für die in der Gemeinde noch vorhandenen 94 Stück Vieh bloss 237 Zentner Heu vorhanden seien. Es bestehe daher die Gefahr, dass zahlreiches Vieh geschlachtet
oder verkauft werden müsse. Viele Kartoffeln seien gestohlen worden; die Gemüsegärten seien «öde und lärr». Für die Ernährung blieben nur noch einige Rüben übrig. Es drohte also eine eigentliche Hungersnot. Vom 7. August bis 24. Oktober 1799 (Zeit der zweiten Schlacht bei Zürich) seien den Franzosen rund 9,3 Tonnen Kartoffeln, 6 Tonnen Heu, 687 Wellen Stroh, 8 Ochsen, 63 Kühe und 19 Pferde abgegeben worden.
Einer anderen Abrechnung aus dieser Zeit ist weiter zu entnehmen, in Mellingen seien 48 640 Rebstickel wohl vor allem in Lagerfeuern und zu Kochzwecken verbrannt worden. In diesen Tagen sollen sich laut zeitgenössischen Quellen rund 9000 Militärpersonen in der Gegend aufgehalten haben. Das Städtchen selber hatte damals eine Einwohnerzahl von bloss 470 Personen. Fast unglaublich mutet die Zahl von 8662 Bäumen an, die in Mellingen insbesondere vermutlich für den Bau von Militärunterkünften und Festungswerken gefällt worden seien. So
stürzte hauptsächlich der zweite Koalitionskrieg die Stadt nicht nur in ein finanzielles Desaster, sondern entblösste auch die ganze Gegend ihrer natürlichen Resourcen.

Doch hatte die Bevölkerung in diesen Jahren nicht nur passiv zu leiden, sondern musste, anstatt der täglichen Arbeit nachzugehen, noch viele zusätzliche Dienste leisten. Am 4. JuIi 1799 wurde Mellingen beispielsweise aufgefordert, innert zwei Tagen ein Lager für 250 Tonnen Heu herzurichten. In dieser kriegerischen Zeit verlangte die Heeresleitung von den Bürgern häufig, beim Errichten von militärischen Anlagen mitzuhelfen. Am 1. September 1799 befahl Regierungsstatthalter Pfenninger der Stadt, mehrere Tage lang je 16 Leute für Schanzarbeiten mit Pickeln und Hauen nach Baden zu schicken. Diese hatten
um 6 Uhr abends - also nach dem eigenen Tagewerk - anzutreten und bis nachts um 12 Uhr zu schuften. Belastend waren auch die vielen Requisitionsfuhren, d.h. der Transport der für militärische Belange beschlagnahmten Güter. Als wichtiger Brückenort war dabei Mellingen besonders betroffen. Einer Liste von Anfang 1799 entnehmen wir, dass 20 Pferde - Besitzer waren vor allem die Müller, der Löwenwirt und Salzfaktor Franz Xaver Gretener - für solche Requisitionsfuhren einsetzbar waren. Da von diesen Lasten relativ wenige Einwohner betroffen waren, erhob die Gemeinde für die in diesem Zusammenhang anfallenden Kosten eine Spezialsteuer, die von allen Bürgern zu entrichten war.

Das politische Leben
Es fällt nicht leicht, obwohl die Quellenlage für die Helvetik recht gut ist, sich über die politischen Verhältnisse im Mellingen jener Zeit ein klares Bild zu verschaffen. Die Gemeinden waren eigentlich nur noch Verwaltungseinheiten mit wenig politischer Kompetenz. In jeder Gemeinde lassen sich aufgrund des Gemeindegesetzes von 1799 drei Gremien feststellen:

1. Der Agent amtete als Vollzugsbeamter der Kantonsregierung.
2. Die Munizipalität war die bedeutendste Institution. Sie erledigte die polizeilich-
administrativen Aufgaben. Dieser Körperschaft stand der von allen Aktivbürgern
gewählte Munizipalitätspräsident vor.
3. Die Gemeindekammer - in Mellingen meist «Administration» genannt -
verwaltete das Gemeindegut; geleitet wurde sie vom Bürgerpräsidenten.

Diese Zweiteilung zwischen Munizipalität und Gemeindekammer ergab sich daraus, weil das meiste Gemeindegut im Besitz der ehemaligen Bürger lag. Damit war die Grundlage zu den nachmaligen, bis auf den heutigen Tag existierenden Einwohner- und Bürgergemeinden gelegt.

Nachdem Mellingen am 15. März 1798 die alte Stadtverfassung aufgegeben hatte, wählte die Bürgerversammlung eine sechsköpfige Übergangsregierung mit Franz Xaver Gretener (I751-1806) an der Spitze. Als sich dann im Mai der Kanton Baden konstituiert hatte und Gretener zum Kantonsgerichtspräsidenten ernannt worden war, wurde am 9. Juli 1798 Xaver Frey (1762-1834) neuer Präsident der Munizipalitätsverwaltung und Johann Arbogast Frey (1725-1811) Agent. Nach dem Inkrafttreten der neuen Gemeindeverordnung im Februar 1799 wählte man im
April Kaspar Ludwig Netscher zum Munizipalitätspräsidenten. Doch traten die Behördemitglieder bereits am 13. September 1799 wieder zurück. Ihren Schritt begründeten sie damit, dass ihre Autorität in der Gemeinde nicht respektiert werde und ihre Anordnungen nicht befolgt würden. Zudem waren mehrere Behördemitglieder seit Monaten nicht mehr ihren Verpflichtungen nachgekommen. Da trat Niklaus Josef Stammler, der Unterstatthalter des Distrikts Bremgarten, auf den Plan und bewog die Mitglieder von Munizipalität und Gemeindekammer auf ihren Posten auszuharren. 26 renitente Bürger erhielten von Stammler eine scharfe Rüge. Im Frühjahr 1800 wurde Munizipalitätspräsident Netscher durch Christian Iten (1750-1835) abgelöst.
Nachdem im Februar 1802 eine neue helvetische Verfassung in Kraft trat und am 29. Juli dieses Jahres der Kanton Baden dem Kanton Aargau zugeschlagen werden sollte, brachen in unserer Gegend erneut Unruhen aus. Mellingen bemühte sich damals - allerdings vergeblich – Distriktshauptort zu werden. Bezüglich der Verfassungsstreitigkeiten verhielt sich die Stadt vorderhand neutral. Als es am 28. September l802 jeder Gemeinde freigestellt wurde, ihre Verwaltungsorganisation nach eigenem Gutdünken neu zu ordnen, zögerte Mellingen nicht lange:
Die Gemeindeversammlung beschloss, wieder das alte Stadtrecht in Kraft zu setzen und einen Kleinrat mit fünf Mitgliedern und einen Grossrat mit sechs Mitgliedern sowie zwei Richter zu wählen. Neuer Gemeindevorsteher wurde Franz Xaver Gretener. Doch Frankreich wollte diesen in zahlreichen Kantonen erfolgten Rückschritt in die politischen Formen vor der Revolution nicht hinnehmen. Napoleon verfügte daher am 21. Oktober 1802 den Wiedereinmarsch einer französischen Armee. Die Munizipalitäten sollten wieder die Gemeindegeschäfte führen. Mellingen war eine der letzten Gemeinden im Kanton, welche am 9. November gezwungenermassen wieder die helvetische Ordnung annahm.
Nachdem bisher stets alteingesessene Bürger auch in der Helvetik an der Spitze der Gemeinde standen, übernahm nun der aus Baldegg /LU hergezogene Leonz Kreuliger (+ 1824) das Amt des Munizipalpräsidenten. Doch bereits im Februar 1803 wurde dieser von Kaspar Ludwig Netscher, der dieses Amt schon 1799/1800 innegehabt hatte, abgelöst. Allein schon der Umstand, dass in den fünf Jahren der Helvetik nicht weniger als sechsmal das Gemeindeoberhaupt wechselte, veranschaulicht, wie turbulent diese Zeit war.

Napoleon sah ein, dass die Eidgenossenschaft nicht zentralistisch regiert werden konnte und gab ihr durch die sogenannte Mediationsakte wieder eine vermehrt föderalistische Struktur. Diese neue Verfassung trat am 10. März 1803 in Kraft. Damit war auch das Schicksal des Kantons Baden endgültig besiegelt. Dieser wurde mit dem Fricktal dem Aargau angegliedert. Als erster Stadtammann im neuen Kanton wurde am 16. August 1803 der schon mehrmals genannte Franz Xaver Gretener gewählt. Für Mellingen begann nun wieder eine ruhigere Zeit. Der Wunsch, Bezirkshauptort zu werden, blieb jedoch unerfüllt. Vom Distrikt Bremgarten wechselte Mellingen zum Bezirk Baden, womit den früheren historischen Gegebenheiten besser Rechnung getragen wurde.


Quellen und Literatur:
Amtliche Sammlung der Akten aus der Zeit der Helvetischen Republik, 16 Bände. Bern/Freiburg
i. Ü. 1886-1966.
- Leuthold Rolf. Der Kanton Baden 1798-1803. Aarau 1934.
- Stadtarchiv Mellingen: Nummern 56 bis 67.


Bild-Nr.: 39821
Bild: Mellinger Städtlichronik 1999
Text: Mellinger Städtlichronik 1999/Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1999

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