1798 - Mellingen in der Helvetik Teil 1, Rainer Stöckli
Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991
Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991
Bild:
Gerichtsstab von Mellingen
Vorsitzender des Gerichts in der Stadt war der Schultheiss, in Tägerig der Twingherr. Diesen silberbeschlagenen Gerichtsstab aus dem 17. Jahrhundert trugen die Gerichtsvorsitzenden als Symbol ihrer Machtbefugnis. 1798 verlor Mellingen sowohl in der Stadt als auch in Tägerig alle Gerichtsrechte. Es berührte die Behörden sehr schmerzlich, fortan sämtliche Gerichtsfälle vor dem Distriktsgericht in Bremgarten aburteilen zu lassen. Eine jahrhundertealte Rechtstradition hatte damit ein abruptes Ende genommen. Standort: Ortsmuseum Mellingen.
Schlechter Nährboden für die Revolution
Wir sind bereit, «alles bis auf den letzten Atemzug aufzuopfern, so antworteten die Mellinger ihren regierenden Orten Zürich, Bern und Glarus, als Ende Januar 1798 die Franzosen in die Waadt eindrangen und am 1. Februar in Aarau die letzte Tagsatzung der Alten Eidgenossenschaft ergebnislos auseinanderstob. Doch die Franzosen rückten weiter gegen Osten voran.
Am 5. März ergab sich Bern. Keine Woche vorher waren der Mellinger Schultheiss Augustin Müller (1768-1809) und Seckelmeister Franz Xaver Gretener (1751-1806) am
27. Februar nach Zürich gereist und hatten angefragt, wie sie sich in dieser prekären Situation zu verhalten hätten. Im Mellinger Ratsprotokoll lesen wir darüber: Schultheiss und Rat hätten beschlossen, «bei unserer Konstitution wohl zufrieden zu sein und dass alles möchte ruhig und still in diesen dermahlen bedrücklichen Zeiten (bleiben), um den lieben Frieden zu erhalten». Die Stadt wollte also absolut an der alten Ordnung festhalten. Denn Mellingen hatte trotz seiner Stellung als Untertanenstadt fernab von den obrigkeitlichen Landvögten eine erstaunliche rechtliche Autonomie erlangt und verfügte neben Bremgarten als einzige Stadt im heutigen Aargau mit dem Twing Tägerig über eine eigene Gerichtsherrschaft. Zudem hatte Mellingen seit seiner Entstehung um 1240 nie eine derart lange Friedenszeit erlebt.
Nach dem 2. Villmergerkrieg 1712 - also 86 Jahre lang – war das Städtchen nie mehr in grössere kriegerische Wirren verwickelt gewesen. In der zweiten Hälfte des l8. Jahrhunderts lässt sich daher eine behutsame Aufbruchstimmung in der Gemeinde feststellen. 1786 wurde eine eigene Handwerkerzunft gegründet. 1794 liess man mit riesigem finanziellem Aufwand durch den Luzerner Werkmeister Josef Ritter eine pfeilerlose Brücke, ein Meisterwerk damaliger Brückenbaukunst, errichten. Insbesondere kirchliche Feste, wie die Firmspendung, Fronleichnam und die Gedenkfeiern der Katakombenheiligen Hilaria, wurden mit grossem barockem Pomp begangen. Zeichen dieses Bürgerstolzes ist auch die 1790 in Auftrag gegebene Schultheissentafel, die noch heute (1998) im Museum bewundert werden kann. So ist es eigentlich begreiflich, dass die Mehrzahl der Bürger an einem politischen Umsturz kein grosses Interesse bekundete. Das war der eine Faktor. Ein anderer war der, dass sich im Mellingen des ausgehenden 18. Jahrhunderts kein Bildungsbürgertum feststellen lässt wie etwa in Aarau und Brugg, wo sich Männer mit den Ideen der Aufklärung befassten und in diesem Zusammenhang die Fragen demokratischer Herrschaftssysteme, wie sie dann die Französische Revolution aufnahm, diskutierten. Im Städtchen finden wir denn, mit einer Ausnahme vielleicht, keine prononciert franzosenfreundliche Bürger. Einzig der begüterte Franz Xaver Gretener machte hier eine gewisse Ausnahme. Er war Salzfaktor, d.h. Verwalter des Luzerner Salzhauses in Mellingen.
Nachdem 1789 in Frankreich die Revolution ausgebrochen war, überschwemmten zahlreiche französische Flüchtlinge die Eidgenossenschaft. Damals steIIte Gretener einen Franzosen ein, der für seine Speditionsgeschäfte die französische Korrespondenz erledigte. Zugleich engagierte er einen Pfarrer aus dem Elsass als Hauslehrer. Greteners profranzösische Haltung offenbarte sich auch, als Mellingen am 14. März 1798 seine alte städtische Verfassung aufgab und die erste provisorische Stadtverwaltung nach helvetischem Muster gewählt wurde. An ihrer Spitze stand Franz Xaver Gretener.
Die Einführung der Helvetik in Mellingen
Immer mehr rückten die französischen Truppen gegen unser Gebiet vor. Zwar stand am 7. März ein grösseres Freiämter Verteidigungsdetachement in Wohlenschwil bereit. Doch setzte sich mehrheitlich die Überzeugung durch, dass ein Widerstand gegen die französische Übermacht wenig erfolgsversprechend war.
Nachdem sich am 8. März Baden von seiner Jahrhunderte alten städtischen Verfassung getrennt hatte, war es in Mellingen am 14. April soweit. Im Protokoll wird dieser Akt folgendermassen festgehalten: «...dass Beyspiel von den Hohen Regierenden Orten und ständen, und mehreren benachbarten Municipalstädten besonders aber die bedrängte Lage unsseres Theüren Vaterlandes hat die H. Schultheiss und beyde Räthe bewogen, die bissherige Verfassung aufzugeben und der sammtlichen Bürgerschaft Freyheit und gleichen genuss aller bürgerlichen Rechten des feyrlichsten zuzusichern.»
Damit wurden die bis anhin praktisch rechtlosen Beisassen zu gleichberechtigten Bürgern. Die bisherigen Amtsinhaber traten zurück, und es wurde am 15. März von der Gemeindeversammlung eine neunköpfige provisorische Regierung gebildet. Am gleichen Tag eilte der Twingherr (=Gerichtsherr) von Tägerig, Johann Kaspar Schwarz, und Stadtschreiber Johann Georg Wassmer (1769-1815) in die Gerichtsherrschaft, um den Dorfgenossen anzuzeigen, «dass man... dieselbe ihren Eiden Entlasse auf die arth und Weiss wie andere hohe Ständt und Municipal Städt Ihre Gerichtsangehörige auch entlassen» hätten. Tägerig wurde damit eine eigenständige Gemeinde.
Als gewisse Kompensation gliederte man dem Städtchen aber im Mai 1798 den sogenannten Trostburgertwing, das Gemeindegebiet rechts der Reuss, an, das bisher nur eine Gerichtsherrschaft Mellingens gewesen war. Wir können also dieses Jahr auch 200 Jahre Gemeinde Mellingen in den heutigen Grenzen feiern.
Der nicht gerade grosse Enthusiasmus Mellingens gegenüber der neuen Ordnung lässt sich zudem aus dem Mandat entnehmen, das in der Folge in deutscher und französischer Sprache im Städtchen und in Tägerig angeschlagen wurde, mit der Mahnung, «dass sich niemand erfrechen solle, gegen die grosse Nation Frankreichs weder mit Worten noch mit Werken sich zu wenden.» Die Gemeinde versuchte also möglichst ungeschoren davonzukommen. Dieses gewisse Anpassertum der Mellinger stellen wir übrigens auch in früheren Jahrhunderten - beispielsweise in den Religionswirren und im Bauernkrieg - fest.
Am 27. März entschloss man sich, auch in Mellingen einen Freiheitsbaum aufzurichten. Die Behörden luden die Bevölkerung freundlich zu diesem Anlass ein. Wer daran teilnehmen wolle, solle dies «in guter Ruhe und Stille und in gebührender anstendigkeith» tun. Im weitern wurde den Bürgern eingebleut:
Es «solle sich aber jedermann vor ungescheiden Worten hüöten», mit anderen Worten, man solle keine dummen Sprüche klopfen.
Mellingen im neuen Kanton Baden
Es galt nun, die politisch-verwaltungsmässige Ordnung der Helvetischen Republik, welche in Kantone eingeteilt wurde, endgültig zu regeln. Ende März entliessen die regierenden Orte die Grafschaft Baden und die Freien Ämter in die Freiheit. Ein Verfassungsentwurf des französischen Generals Guillaume Brune sah vor, dass die Grafschaft Baden und die Freien Ämter mit den darin gelegenen Städten den Kanton Baden bilden sollten. Kurz darauf warf der Erlass des französischen Regierungskommissärs Marie-Jean Lecarlier, wonach die obgenannten Gebiete dem Kanton Zug zugeschlagen werden sollten, alle Pläne wieder über den Haufen und löste damit grosse Unsicherheit und Unruhe aus. Sympathien für einen Anschluss an Zug hatten insbesondere die oberen Freien Ämter, während ein Teil der untern Ämter, Bremgarten, Mellingen und die Grafschaft Baden weiterhin für einen Kanton Baden plädierten. Ausschlaggebend war schliesslich die Haltung Zugs, das an einer Erweiterung seines Territoriums wenig Interesse zeigte. So erlaubten die französischen Machthaber am 11. April, einen Kanton Baden nach den Vorschlägen von General Brune zu bilden. Schon zuvor hatte sich in den Untern Freien Ämtern ein «provisorischer Volksrat», der von Mellingen durch Präsident Gretener und Repräsentant Augustin Müller beschickt wurde, und in der Grafschaft eine provisorische Regierung gebildet. Es war nun entscheidend, um ein weiteres Eingreifen Frankreichs zu verhindern, sich möglichst zügig zu einem Kanton zu konstituieren.
Doch regte sich in den Freien Ämtern starker Widerstand, die Abgeordneten für die beiden helvetischen Parlamentskammern und die Kantonsbehörden in Baden zu wählen und somit diese Stadt als Hauptort anzuerkennen. Die provisorische Regierung von Baden lenkte schliesslich ein und schlug Mellingen als Wahlort vor. Als Termin wurde der 12. April 1798 festgelegt. Doch erschienen damals nur die Wahlmänner der Grafschaft Baden, der drei Städte und einiger Freiämter Dörfer in Mellingen. Lecarlier verfügte nun aber, alle Wahlmänner der Freien Ämter hätten sich am 19. April ebenfalls in Mellingen einzufinden. Selbst Zug wurde dazu noch einmal eingeladen; doch blieb dieses fern. So fanden sich am 19. April 90 Wahlmänner auf dem Rathaus in Mellingen ein. Doch nicht alle Freiämter Gemeinden - so Hägglingen und Boswil - entsandten ihre Delegierten. Ganz allgemein war die Lage wieder sehr gespannt. Deshalb zögerte man in Mellingen nicht lange und wählte in der Pfarrkirche die 12 Abgeordneten in die beiden helvetischen Kammern, vier in den Senat, acht in den Grossen Rat. Bemerkenswert ist, dass sich unter den 12 Vertretern des Kantons Baden kein einziger Mellinger befand. Von den sechs im Kanton gelegenen Städten und Flecken waren nur Kaiserstuhl und Mellingen im ersten helvetischen Parlament nicht vertreten. Wegen den im Raum Mellingen ausgebrochenen Unruhen konnten weitere Wahlen, wie beispielsweise die der Kantonsbehörden, nicht durchgeführt werden. Die Wahlmänner mussten gezwungenermassen das Städtchen verlassen. Zurück blieb in Mellingen nur ein dreiköpfiges «Korrespondenzkommité» unter dem Vorsitz des Zurzachers Johann Heinrich Welti. Dieses sogenannte Mellinger Komitee hatte zur Aufgabe, die Kontakte zu den provisorischen Gremien in den Freien Ämtern und der Grafschaft Baden aufrecht zu erhalten und musste so lange in Funktion bleiben, bis sich die Wahlmänner wieder versammeln konnten, was aber erst am 21. Mai in Baden der Fall sein sollte. In der Zwischenzeit waren aber noch stürmische Tage durchzustehen. Vor allem die Orte Zug und Schwyz agierten in den Freien Ämtern und der Grafschaft Baden gegen einen helvetischen Staat. Wegen dieses Terrors wagten sich schon am 19. April nicht mehr alle Wahlmänner nach Mellingen zu reisen. Wenig Begeisterung gegenüber dem neuen Regime zeigten auch die Klöster Muri und Wettingen, welche mit den Städten zusammenn der provisorischen Regierung in Baden mit Geld beispringen mussten, damit diese ihre Parlamentarier in der helvetischen Hauptstadt Aarau unterstützen konnten. Das erste Geldgeschäft des Regierungskomitees in MeIIingen war somit ein «Pumpgeschäft», was schon zum Voraus ein Licht auf die spätere Finanzlage des Kantons wirft", meint Rolf Leuthold.
Die Unruhen in den Freien Ämtern nahmen immer grössere Ausmasse an. Männer aus Tägerig und Hägglingen verspotteten in Mellingen den Freiheitsbaum. Andere streuten das Gerücht aus, die helvetischen Wahlmänner hätten in der hiesigen Pfarrkirche die Altäre geschändet, die Bilder zertreten und zum Gotteshaus hinausgeworfen. Ein Haufen Bauern aus den Freien Ämtern zog mit Kreuz und Schwyzerkokarden (rosettenförmigen Maschen in den Schwyzer Farben) auf dem Hut nach Mellingen, wurden aber vertrieben.
Der Höhepunkt wurde erreicht, als am 24. April der Zuger General Leonz Josef Andermatt mit 1550 Innerschweizern in die Freien Ämter eindrang. Dem Heer schlossen sich auch Leute aus diesem Gebiet an. Am 26. April kam es dann auf dem Emmetfeld bei Hägglingen zum Gefecht mit einer Brigade des französischen Generals Nouvion, das nach kurzer Zeit zugunsten der Franzosen entschieden wurde. Damit war der Widerstand in den Freien Ämtern gebrochen. Unsere Gegend wurde erstmals durch Truppeneinquartierungen schwer belastet. Gerade bei diesen häufigen Einquartierungen machte sich das Fehlen einer Kantonsregierung stark spürbar; das Volk war der Willkür der Truppen ausgesetzt. Das Mellinger Komitee versuchte zwar sein Möglichstes zu tun; dem Vorsitzenden Johann Heinrich Welti stand Präsident Franz Xaver Gretener von Mellingen zur Seite, kümmerte sich um die Anweisung von Quartieren und versuchte die Truppen mit Brot, Wein und Futter zu versorgen. Da letzterem aber niemand zur Hand ging, verlor Gretener, nach Weltis Aussage, öfters den Kopf. Deshalb war es nun äusserst wichtig, dass der Kanton Baden möglichst bald eine definitive Verwaltung erhielt. Am 17. Mai erklärten die helvetischen Behörden Baden zur Kantonshauptstadt.
Am 21. Mai traten dann die Wahlmänner wieder zusammen. Der Kanton wurde in die fünf Distrikte Zurzach, Baden, Bremgarten, Muri und Sarmenstorf eingeteilt, wobei man Mellingen dem Distrikt Bremgarten zuschlug. Die Wahlmänner ernannten nun die Vollziehungsbehörde, die sogenannte Verwaltungskammer, welcher der Regierungsstatthalter vorstand. Somit war der Kanton Baden konstituiert. Vom Mellinger Komitee hören wir nichts mehr. Etwas überspitzt formuliert, war also Mellingen vom 19. April bis 21. Mai 1798 provisorische Hauptstadt des Kantons Baden. Interessanterweise (oder bezeichnenderweise?) war Mellingen auch in der Verwaltungskammer nicht vertreten.
Die gleichen Wahlmänner ernannten ebenfalls Ende Mai das aus 13 Mitgliedern bestehende Kantonsgericht. Dessen Präsident war der schon mehrmals genannte Franz Xaver Gretener von Mellingen, der aber selber in Gerichtsverfahren verwickelt und deshalb 1801 von seinem Amt suspendiert wurde. Er war unseres Wissens der einzige Mellinger, der im Kanon Baden eine einflussreiche Stellung innehatte. Auf helvetischer Ebene ist uns nur Georg Niklaus Wassmer (1737- 1815) bekannt. Er war Suppleant (Ersatzmann) am Obersten Gerichtshof in Aarau, scheint aber dieses Amt nicht lange innegehabt zu haben. Auf kantonaler Ebene ist noch der Bruder des Kantonsgerichtspräsidenten, Anton Gretener (1753-1806), zu erwähnen: dieser wirkte eine Zeitlang als Kantonsweibel. Die Strahlkraft Mellingens war also auf helvetischer und kantonaler Ebene gering. Umso bedeutender war aber das Städtchen als Quartier von Tausenden von Soldaten, welcher Umstand die Gemeinde total verarmen liess.
Von diesen Truppeneinquartierungen, die Mellingen insbesondere 1799 am meisten belasteten, und den daraus erfolgenden finanziellen Konsequenzen sowie über einige weitere Aspekte des Gemeindelebens in der Helvetik werden wir in der Städtlichronik 1999 ausführlich berichten.
Quellen und Literatur:
- Stadtarchiv Mellingen: Nr. 56 Muniziptitätsprotokoll 1798-1802.
-Leuthold Rolf. Der Kanton Baden 1798-1803. Aarau 1934.
- Revolution im Aargau: Umsturz - Aufbruch - Widerstand 1798- 1803.
Verschiedene Autoren. Aarau 1997.
Bild-Nr.: 39820
Bild: Mellinger Städtlichronik 1998
Text: Mellinger Städtlichronik 1998/Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1998