1850 - Der Aargau als Auswanderungskanton, Dominik Sauerländer

Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991

Um 1850 - Der Aargau als Auswanderungskanton

Dominik Sauerländer

Eines der seltensten und wertvollsten Stücke im Ortsmuseum Mellingen ist eine unscheinbare, kleine Kofferkiste. Sie gehörte einst einer Auswandererfamilie, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts den Aargau Richtung Amerika verliess. Die Kiste wurde den wohl mittellosen Leuten von ihrer Heimatgemeinde zur Verfügung gestellt, damit sie ihre wenigen Habseligkeiten verpacken konnten und im dunklen, unmöblierten Zwischendeck des Segelschiffes einen Ort hatten, wo sie sich während der dreimonatigen Überfahrt hinsetzen konnten. Wie die Kiste von Amerika wieder nach Mellingen zurückgekommen ist, weiss heute niemand
mehr. Vielleicht haben sie Nachfahren der Auswanderer bei einem Besuch in die alte Heimat mitgenommen, vielleicht ist die Familie aber bereits wenige Jahre nach ihrer Abreise unverrichteter Dinge wieder zurückgekehrt.

Mehr

Mir dient die Kiste als Anlass, einige Zeilen zu den grossen Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts zu schreiben. Zwar war damals Mellingen weniger von Not und Elend betroffen als andere Regionen des Kantons. Handel und Handwerk, vor allem aber die aufstrebende Strohindustrie, vermochten zahlreichen Familien Verdienst zu geben, die sonst mit Sicherheit zu den mittellosen Auswanderungskandidaten gehört hätten, die damals von ihren Heimatgemeinden mit Normkisten und Reisegeld versehen nach Amerika abgeschoben wurden.

Dieser Artikel soll auch ein Beitrag zur aktuellen Migrationsdiskussion sein. Ein Blick in die aktuellen Schlagzeilen und Leserbriefseiten der Zeitungen vermittelt nämlich den Eindruck, noch nie zuvor sei die Schweiz vor ähnlich grossen Problemen gestanden wie heute. Viele vergessen dabei, dass Wanderungsbewegungen seit jeher üblich waren und dass sie immer von den armen, versehrten Gebieten in die reichen, befriedeten führten.

Vor noch nicht allzu langer Zeit war die Schweiz und vor allem auch der Aargau selbst ein Auswanderungsland. Die Menge der Menschen, die unsere Heimat im 19. Jahrhundert verliessen, war - im Verhältnis zu den damaligen Bevölkerungszahlen natürlich - mit den heutigen Emigrantenströmen durchaus vergleichbar. Allein zwischen 1851 und 1855 verliessen 4% der Aargauer Bevölkerung ihre Heimat Richtung Übersee. Dazu kamen noch Tausende weitere Auswanderer, die in die Industriestädte Zürich und Basel oder ins benachbarte Ausland abwanderten. Sie taten dies nicht aus Angst vor Folter und politischer Verfolgung, sondern schlicht und einfach aus Mangel an persönlichen Perspektiven, oder aus struktureller Unterbeschäftigung, wie wir sie heute in den klassischen Auswanderungsländern kennen. Es waren also Wirtschaftsflüchtlinge.

Meine Schilderungen basieren auf den eingehenden Studien von Berthold Wessendorf (Die überseeische Auswanderung aus dem Kanton Aargau im 19. Jahrhundert, in: Argovia 85/1973), sowie auf der Kantonsgeschichte von Christophe Seiler und Andreas Steigmeier.

1816 bis 1817: Hungersnot
In den Jahren nach dem Ausbruch der französischen Revolution 1789 erschütterten Kriege Europa. Die europäischen Monarchien hatten der Republik Frankreich den Kampf angesagt, erlitten aber eine Niederlage nach der anderen. Kaiser Napoleon I. war aus den Wirren der Revolution als Alleinherrscher in Frankreich hervorgegangen und setzte sich - ein Affront gegenüber dem europäischen Erbadel - selbst die Kaiserkrone auf. Seine Expansionspolitik setzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Reihe der Kriegshandlungen fort.

Die Schweiz lag mittendrin im Strudel der Ereignisse. 1799 war Zürich Schauplatz von zwei Schlachten, Einquartierungen und Durchzüge der kriegführenden Heere brachen nicht ab. Die Blockade der Franzosen gegen England behinderte den Import von Baumwolle. Zudem kamen in diesen Jahren in England die ersten mechanischen Spinnmaschinen und Webstühle auf, die Nachricht davon versetzte die zahlreichen Heimarbeiter zusätzlich in Unruhe. Zu Recht: Der Markt für einfach gewobene weisse Baumwolltücher brach innerhalb von nur drei Jahren völlig ein.

Als 1816 das schlechte Wetter zu einer miserablen Ernte führte, stiegen die Preise für Getreide und andere Grundnahrungsmittel derart an, das eine Hungersnot drohte. Die meisten Menschen im Aargau lebten schon lange nicht mehr von der Landwirtschaft, sondern arbeiteten für die Textilindustrie - sei es in Heimarbeit oder in den Fabriken - und besassen nur wenig eigenes Land. Die Mehrheit musste somit die Nahrungsmittel kaufen und war auf günstige Preise angewiesen,
um überleben zu können. In dieser Notlage wirkten Nachrichten aus Übersee, die eine neue Heimat in den Vereinigten Staaten von Nordamerika versprachen, wie ein Fanal: Innerhalb nur eines Jahres verliessen 2,5 Prozent der Aargauer Bevölkerung den Kanton Richtung Amerika.

1851 bis 1855: Die Folgen des Sonderbundskrieges
Zu einer zweiten, weit grösseren Auswanderungswelle kam es in den Jahren nach dem Ende des Sonderbundskrieges und der Gründung des neuen Bundesstaates. Auslöser dieser grössten Welle war wiederum das Wetter: In den Jahren 1852 und 1853 waren die Sommer derart kalt, nass und gewitterreich, dass die Frucht auf den Feldern ertrank und die Kartoffeln im Boden verfaulten. Nur dank staatlichen Hilfsprogrammen konnte eine Hungersnot knapp vermieden werden.

Aber - wie gesagt - die Missernten waren nur der Auslöser. Die meisten Auswanderungswilligen – es waren diesmal ganze 4% der Aargauer Bevölkerung - trugen sich schon lange mit dem Gedanken, die Heimat zu verlassen. Die meisten Menschen lebten nach wie vor von einer Kombination aus Industriearbeit und den Erträgen einer kleinen Landwirtschaft, die häufig nur aus einer Pünte und zwei Ziegen bestand. Die Lebenskosten waren hoch, der Verdienst niedrig.

1845 bereits hatte die Kartoffelkrankheit die Ernten dieses Hauptnahrungsmittels dezimiert. Zwei Jahre später lähmte der Sonderbundskrieg, die militärisch ausgetragene Auseinandersetzung zwischen den konservativen und den liberalen Kantonen, die Schweizer Industrie. Viele Familien verarmten, brachten sich kaum durch. In dieser Situation setzten manche ihre Hoffnung wiederum auf das gelobte Land: Amerika! Die Gemeinden unterstützten Auswanderer finanziell. Sie zogen es vor, möglichst viele ihrer armen Familien abzuschieben, als auf Gemeindekosten ernähren zu müssen. Die meisten bekamen einen Teil der Überfahrtskosten bezahlt, Mittellose erhielten obendrein einen kleinen Überseekoffer, um ihre bescheidene Habe zu verstauen.

Organisierte Agenturen vermittelten Fahrkarten auf Segel- oder modernen Dampfschiffen, die nur noch drei Wochen für die Überfahrt brauchten, gegenüber drei Monaten noch zu Beginn des Jahrhunderts. Die Organisation der Auswanderung war zu einem lukrativen Geschäft geworden. Einige Familien kehrten aber bald desillusioniert und mittellos wieder zurück, da sie bereits im Zielhafen von dubiosen Landverkäufern übers Ohr gehauen worden waren.

1880 bis 1885: Strukturkrise
Die letzte grosse Auswanderungswelle ging unmittelbar zwar wiederum auf eine Reihe von Missernten mit Nahrungsmittelteuerung zurück, aber auch diesmal lagen die eigentlichen Ursachen tiefer. Unter den Auswanderungswilligen befanden sich nun neben armen Heim- oder Fabrikarbeitern auch Vollbauern und Handwerker. Sie alle waren Opfer einer umfassenden wirtschaftlichen Veränderung, die durchaus mit dem heutigen Umbau der Wirtschaft verglichen werden kann.

In der Landwirtschaft waren durch das Aufkommen der Eisenbahn-Importe von billigem Getreide möglich geworden. Getreideanbau rentierte immer weniger, dafür nahm die Bedeutung der Viehwirtschaft zu. Die Umstellung auf Milch- und Fleischproduktion überstieg aber die finanziellen Möglichkeiten vieler Bauern. Der Aufbau einer neuen Existenz in Übersee schien lukrativer. Doch nicht nur die Landwirtschaft, auch Handwerk und Heimarbeit befanden sich in einer Krise. Billige Industrieprodukte ersetzten immer mehr handwerkliche Erzeugnisse und
machten Heimarbeit in vielen Branchen überflüssig. So sahen zahlreiche Handwerker und Heimarbeiter in der Schweiz keine Perspektive mehr und entschlossen sich, in Übersee einen neuen Anfang zu wagen. Insgesamt verliessen zwischen 1880 und 1885 2,5% oder Aargauer ihre Heimat Richtung Amerika.

Binnenwanderung und Nachkriegszeit
Zahlenmässig noch gewichtiger als die Auswanderung nach Übersee war die Wanderung in die Schweizer Nachbarschaft. Im Jahr 1850 lebten 8,6% der Kantonsbürger ausserhalb ihres Heimatkantons, 1880 waren es bereits 20,7%! Erst nach 1945, im Zuge von Hochkonjunktur und Bauboom, änderte sich die Stellung der Schweiz und des Aargaus grundlegend. Die kriegsverschonte Schweiz war rascher als die Nachbarstaaten wieder auf wirtschaftlichem Expansionskurs und benötigte zusätzliche Arbeitskräfte. Ein guter Teil dieses Schweizer
Aufschwungs fand auch im Aargau statt. Die heutige komfortable Situation mit unserem hohen Lebensstandard ist also ein Resultat der letzten 50 Jahre.


Bild-Nr.: 39815
Bild: Mellinger Städtlichronik 1999
Text: Mellinger Städtlichronik 1999/Dominik Sauerländer
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1999

ca. 1850