Helene Rymann

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2001 - Nachruf Helene Rymann

Mit dem Heimgang von Helene Rymann ist ein Stück Geschichte der Freiämter Strohgeschichte in die Vergangenheit eingegangen.

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Helene Rymann erblickte das Licht der Welt am 21. April 1905 als Tochter des Albert und der Albertine Rymann-Bitterli im heutigen Rathaus in Mellingen. Ihr Vater übernahm 1903 die Druckerei Reussbote vom bisherigen Inhaber Otto Wanner, Baden (Grossvater vom heutigen Verleger Peter Wanner). Die Druckerei befand sich im obersten Raum des Rathauses, wo ehemals die Schule untergebracht war. Der spätere Verleger Albert Nüssli absolvierte bei Albert Rymann die Lehre als Schriftsetzer.
Politische Wirren zwischen Konservativen und Liberalen in Mellingen gruben das Grab für die Existenz Rymanns. Am 7. Dezember 1911 verabschiedete er sich von Mellingen und trennte sich zugleich von seiner Familie. Helene Rymann war damals erst 6 Jahre alt und litt zeitlebens unter ihrer vaterlosen Jugendzeit. Fortan musste die Mutter mit Heimarbeit hart um die Existenz kämpfen. Helene Rymann war eine überaus intelligente Schülerin. Ein Bruder ihrer Mutter ermöglichte ihr den Besuch der Höheren Handelsschule in Neuenburg. Ihre erste Stelle fand sie beim Zürcher Gesundheitsamt. Doch schon nach einem Jahr holte sie die Direktion der Geflechtsfabrik Argovia AG in Mellingen als Sekretärin in ihren grossen Betrieb mit Filialen in Florenz und Tägerig. Damals war die Hochblüte der Freiämter Stroh- und Geflechtsindustrie. Strohhüte und Geflechte wurden auch ins Ausland, vorab nach Amerika und Australien exportiert. Die Argovia bot Verdienstmöglichkeiten nicht nur für das Städtchen Mellingen, sondern für alle umliegenden Dörfer. Besonders im Winter, in der Hauptsaison, fanden die daheim arbeitenden Bauerntöchter willkommenen Verdienst- und auch Heimarbeit als Flechterinnen. Dann kam die hutlose Mode . und damit der Niedergang der Geflechtindustrie. Davon waren auch die Argovia und die Geflechtfabrik Jean Kappeler betroffen. In die freiwerdenden Lokalitäten der Argovia zog die Zürcher Firma Krause und Engler mit ihrer Regenmantelfabrikation und bot neue Arbeitsplätze. Helene Rymann war die "rechte Hand" der jeweiligen Direktoren Jean Schmid, Emil Staubli, dann der Wohler Herren Wildi und Bizai. Alle konnten sich auf sie verlassen - immer hatte sie den genauen Überblick in allen Abteilungen. Sie arbeitete vorab als Hauptverantwortliche in der Lohn- und Buchhaltungsabteilung, später zusätzlich auch in der Bemusterung der Kollektionen. Bei ihr gab es erst Feierabend, wenn alles stimmte, oft erst spät nachts. Helene Rymann besass ein sehr ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein bis in ihr hohes Alter. Als dann die Wohler Firma Georges Meyer & Co. AG den Betrieb der Argovia in reduzierter Grösse übernahm, hielt Helene Rymann auch der neuen Direktion die Treue, als diese Firma innert kurzer Zeit ihre grossen Bemühungen um die Geflechtindustrie aufgeben musste und heute noch als Alpha Geflechte AG präsent ist, vermietete die Argovia ihre freien Räume an verschiedene Firmen. Während mehr als 75 Jahren harrte Helene Rymann mit eisernem Willen in ihrem Bureau aus, führte darin ein etwas einsames Leben, das belebt und verschönert wurde durch ihren treuen Nymphensittich "Bobby". Erst mit 94 Jahren zog sie sich von ihrer dortigen Arbeit zurück, weil das Augenlicht abnahm und die Beine auch nicht mehr den langen Weg von ihrer Wohnung an der Bruggerstrasse 17 bis hinauf zur Argovia schaffen konnten. Einen letzten Höhepunkt in ihrem langen Wirken durfte sie anlässlich der 100-Jahr-Feier des "Reussbote" am 12. Juni 1998 erleben, wo sie als Tochter des einstigen Verlegers Rymann geehrt wurde. Zeitlebens blieb sie dem "Reussbote" mit viel Interesse eng verbunden. Neben ihren grossen Verpflichtungen und geschäftlichen Belastungen fand sie noch Zeit, den Ingebohler Schwestern das Finanzwesen des Altersheimes Mellingen ohne Entschädigung zu betreuen. Auch hat sie in früheren Jahren alle Sekretariatsarbeiten der Katholischen Kirchgemeinde unentgeltlich erledigt. Während Jahrzehnten war sie ein eifriges Mitglied des Katholischen Kirchenchores und der Theatergesellschaft. Im stillen hat sie auch vielen, vorab italienischen Arbeiterfamilien in ihren Anfangsschwierigkeiten geholfen. Nach einem Sturz in der Wohnung wurde ein Spitalaufenthalt und anschliessend die Übersiedlung in das Pflegezentrum "Reusspark" nötig. In den zwar alten, aber heimeligen Räumen der Pflegeabteilung im dazugehörigen Kloster Gnadenthal fand sie verständnisvolle Betreuung mitsamt ihrem Nymphensittich "Bobby". Vor einem Jahr musste ihr im Kantonsspital Aarau ein Bein amputiert werden. Es bedeutete für Helene Rymann eine schwere Lebenskrise. Mit ihrem sprichwörtlichen Lebenswillen entschloss sie sich noch für eine Beinprothese mit vielen strengen Therapien, in der festen Hoffnung, nochmals in ihre Wohnung heimkehren zu können. Immer wieder fand sie Kraft und Trost für ihre Sorgen und Probleme in der kleinen Klosterkirche. Mitte August - nach der grossen Hitze - nahmen ihre Kräfte plötzlich ab und sie spürte ihr nahes Ende. Liebevoll umsorgt vom Pflegepersonal durfte sie in den frühen Morgenstunden des 8. Septembers 2001 Abschied nehmen von dieser Welt. Auf dem Friedhof ihrer Heimatgemeinde Oberrohrdorf wünschte sie einen letzten Ruheplatz zu finden. (an)


Bild-Nr.: HR01
Bild: Reussbote 2001
Text: Anna Nüssli
Copyright: © Reussbote

2001