1242 - Mellingen - Werden einer Stadt - Von ihrer Entstehung bis zur Stadtrechtserteilung 1296 , Rainer Stöckli

Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991

Mellingen - Entstehung der Stadt / Rainer Stöckli

Bild: Kristallisationspunkte der Stadtwerdung

1242 werden in einer Urkunde des Klosters Kappel die Ortschaften Mellingen und Zug erstmals als Städte, als «oppida», erwähnt. Initianten dieser neuen Siedlungen waren die Grafen von Kyburg, Abkömmlinge jenes Dynastengeschlechts, welches sich im 12. und 13. Jahrhundert im schweizerischen Mittelland am ausgeprägtesten als Städtegründer hervortat. So ist denn anzunehmen, dass Graf Hartmann der Ältere (+ 1264) im Jahrzehnt vor 1242 den Anstoss gab, an der Reuss eine planmässige Siedlung mit Markt zu errichten. Dass es sich hier um eine planmässige Gründung handelt, ergibt sich aus dem sehr regelmässigen Grundriss und der Aufteilung der Stadtfläche in gleichmässige Parzellen, sog. Hofstätten, welche von den Stadtherrn, den Grafen von Kyburg und später jenen von Habsburg, bauwilligen Bürgern gegen einen relativ bescheidenen Zins abgegeben wurden.
Seinen Namen übernommen hatte das neue Gemeinwesen vom rechts der Reuss gelegenen Alemannendorf Mellingen, dessen dörfliche Strukturen nach der Übernahme der dortigen Niederen Gerichtsherrlichkeit durch die Stadt 1364 und der Feuersbrunst im Alten Zürich-Krieg (1436-1450) sich noch im 15. Jahrhundert völlig auflösten.

Auf dem Gebiet der heutigen Altstadt existierten vor deren Anlage wohl nur ganz wenige Gebäude. Viele Städte entstanden in Anlehnung an eine bereits bestehende Burg, so neben Aarau, Lenzburg und Baden wohl auch Mellingen. In unserer Stadt ist dabei das Schlösschen Iberg gemeint. Erste Ansatzpunkte finden wir vermutlich bereits 1178, als Papst Alexander VII. dem Stift Schänis den Besitz der Kirche in Mellingen samt zugehörigem Hof und Schifflände bestätigte. Dass dieser Hof und insbesondere die Schifflände, wie man bisher glaubte einzig als Einnahmequellen für die Kirche bestimmt waren. ist eher zu bezweifeln.
Vielmehr ist anzunehmen. dass die Kirche, der Hof - der sich langsam zum nachmaligen Iberg entwickelte - und die Schifflände sich zum ersten strategisch-wirtschaftlichen Kontrollzentrum an der Reuss im Raum Mellingen, wahrscheinlich noch zur Zeit der 1172 ausgestorbenen Grafen von Lenzburg, ausgebildet hatten. Zudem wäre die im Bereich von Kirche und Iberg noch relativ ruhig fliessende Reuss für eine Fähre ausgesprochen geeignet gewesen.

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Neben Kirche und Iberg ist wohl auch das Alte Rathaus, die ehemalige Gräfinnenmur, vorstädtischen Ursprungs. Anlass zu dieser Vermutung gibt eine romanische Säule, die dort 1943 beim Durchbruch für ein neues Fenster freigelegt wurde. Dieses für unsere Gegend sehr seltene romanische Zierstück dürfte aus der Mitte oder der 2. HäIfte des 12. Jahrhunderts stammen. Folglich entstand der Vorgängerbau des nachmaligen Mellinger Rathauses vermutlich mehrere Jahrzehnte vor der Stadtwerdung und wurde im 13. Jahrhundert zum Wohnturm der Kyburger. Nach alter Überlieferung sollen nach dem Tode Hartmanns des Jüngern von Kyburg im Jahre 1263 dessen zweite Gattin, Gräfin Elisabeth von Chalons, und deren Tochter Anna längere Zeit in diesem Bau gewohnt haben, daher die Bezeichnung Gräfinnenmur.


Von der ersten Nennung als Stadt bis zur Stadtrechtserteilung 1296

Während es bei andern Städten - insbesondere beim benachbarten Baden - zum Teil recht schwierig ist, das Werden der Stadt infolge Mangels einschlägiger Quellen aufzuzeigen, sind wir in Mellingen in der beneidenswerten Lage, über 35 Dokumente zu kennen, die es uns ermöglichen, ein faszinierendes Bild der langsam sich entwickelnden Stadt zu zeichnen.
So hören wir bereits 1245, dass in der Kirche Mellingen in Anwesenheit mehrerer hoher kirchlicher Würdenträger ein Streit zwischen dem Haus Habsburg und dem Fraumünster in Zürich um die Kapelle in Schlieren entschieden wurde. Mellingen war also Gerichtsort, ein typisches Merkmal für eine Stadt, geworden.

1247 vernehmen wir erstmals in einer Gerichtsurkunde von einem Schultheissen. Burkard de Lone; er leitete im Auftrag der Herrschaft, den Kyburgern, die Geschicke der Stadt und stand dem Gericht vor. Auch wird in diesem Text Mellingen erstmals als «civitas», die klassische Bezeichnung für eine Stadt, erwähnt, und es tauchen auch einige namentlich genannte «cives», d.h. Stadtbürger, auf. Diese Urkunde ist auch insofern bemerkenswert, als sie vom Pfarrer der Stadt, Hartlieb von Wile, besiegelt wird; neben diesem ersten urkundlich erwähnten Pfarrer von Mellingen erscheint unter den Zeugen auch ein «Dominus Cantor», wohl ein Kleriker, der u.a. den Kirchengesang leitete. Es ist darum zu vermuten, dass schon damals zwei Kleriker in Mellingen residierten.
1248 tritt erstmals mit «Arnoldus preco» ein Stadtweibel, der Inhaber der Polizeigewalt in der Gemeinde, auf. Fünf Jahre später ist die wohl gleichzeitig mit der Stadt erbaute Brücke über die Reuss sowie die jenseits derselben gelegene Bruggmühle, welche damals vom Haus Kyburg ans Kloster Wettingen überging, genannt. Die Reuss und die Brücke dürfen für Mellingen füglich als die stadtbildenden Faktoren bezeichnet werden. 1256 ist Mellingen unmissverständlich als befestigte Siedlung («castrum») bezeugt.

1262 hören wir erstmals von einem Schulmeister. Von ganz besonderer Bedeutung ist eine Urkunde von 1265, in welchem das Kloster Wettingen einer gewissen Gertrud Bürgender ein Darlehen gewährt. Besiegelt ist dieses für die Geschichte Mellingens sehr bedeutsame Dokument von Pfarrer Hartlieb sowie von der Bürgerschaft von Mellingen («nos . . .bvrgenses de Mellingen»). Die Bürger von Mellingen treten also als politisch eigenständig handelndes Gremium auf und führen bereits ein eigenes Siegel (s. Abb. 41041). Interessanterweise wählte man als Siegelbild nicht etwa die Kyburger Löwen des ehemaligen Stadtherrn, sondern einen Adler mit Nimbus, Symbol des damaligen Kirchenpatrons Johannes' des Evangelisten. Das lässt aufhorchen. 1264 war nämlich mit Hartmann dem Älteren der letzte Kyburger des in unserer Gegend regierenden Stammes kinderlos gestorben. Diese obgenannte Urkunde kann daher durchaus als Zeichen gewisser Autonomiebestrebungen in Mellingen gedeutet werden.

Doch dieser offenbare Freiheitsdrang der Mellinger wurde recht bald gebremst. Durch die kluge Kauf- und Heiratspolitik gelangte Mellingen um den 5. Mai 1273 mit mehreren Aargauer und Innerschweizer Orten zusammen für 14 000 Mark Silber ans Haus Habsburg. Verkäuferin war die obgenannte Anna von Kyburg, Tochter des verstorbenen Hartmanns des Jüngern, welche sich mit Eberhard von Habsburg, einem Neffen Rudolfs von Habsburg, verehelicht hatte. Somit war dieser Machtwechsel nicht durch klingende Münze abgegolten, sondern die Weitergabe des herrschaftlichen Gottesgnadentums durch eheliche Bande besiegelt.
Zusätzliches Gewicht erhielt dieser Kauf noch dadurch, dass fünf Monate später Rudolf von Habsburg zum deutschen König erwählt wurde. Am 6. März 1283 erschien König Rudolf persönlich in Mellingen und verpfändete an den Edlen Walter von Klingen und drei Bürger von Zürich Steuern in letztgenannter Stadt. Diese Verpfändungsurkunde ist der einzige Beleg einer Anwesenheit des Königs in Mellingen. Doch weilte Rudolf wohl noch einige Male hier, wissen wir doch vom nahegelegenen Baden, dass sich der König nachgewiesenermassen achtmal dort aufgehalten hat.

Die Erteilung des Stadtrechts am 29. November 1296

Weshalb Mellingen ausgerechnet 1296 von Herzog Albrecht, dem Sohn König Rudolfs, das Stadtrecht verliehen erhielt und dazu noch das sehr vorteilhafte Winterthurer Stadtrecht. sind wir auf blosse Vermutungen angewiesen. Denn die sehr knapp gehaltene Stadtrechtsurkunde liefert uns keine konkreten Hinweise. Es steht da bloss, er, Albrecht, gebe bekannt, dass ihm die Bürger von Mellingen in vielfältiger Weise ihre Treue und Ehrerbietung erwiesen hätten. Deshalb habe er beschlossen, um den Mellingern ein Leben in Ruhe und Ehre zu gewährleisten, ihnen die gleichen Rechte zu verleihen, wie sie die Stadt Winterthur bereits geniesse. Mehr sagt der zehneinhalb Zellen umfassende Text nicht aus. War mit der im Urkundentext genannten Treue möglicherweise die weiter unten noch abgehandelte Tatsache gemeint, dass Mellingen den Habsburgern Kontingente für ihre Kriegszüge bereitstellte? Doch zur sogenannten Heeresfolge war eigentlich jede Stadt ihrem Herrn gegenüber verpflichtet. Möglicherweise kann aber eine Negativmeldung diesen Gnadenerweis erklären. Als nämlich am 15. Juli 1291 König Rudolf verstarb, entstanden nicht nur in der Innerschweiz sondern auch im Mittelland Unruhen. Auch im untern Reusstal und im Limmattal lassen sich Österreich-Anhänger und Österreich-Gegner feststellen. Antihabsburgisch waren u.a. die Stadt Zürich und die Abtei Wettingen. Und gegen Wettingen unternahmen vor dem 12. Dezernber 1292 verschiedene Einzelpersonen sowie die Bürgergemeinde von Bremgarten einen Raubzug. Von Mellingen waren bloss Johann von Leerau und Johann von Hedingen mit dabei. Deshalb ist es zur Vermutung nicht weit, das offizielle Mellingen habe diesen Zug gegen Wettingen, zu dem es stets gute Beziehungen pflegte und wo mehrere Mönche aus Mellingen Gott ihr Leben weihten, abgelehnt, sei also damals wie die Abtei antihabsburgisch gewesen. Doch Herzog Albrecht musste alles Interesse daran haben, die strategisch wichtige Stadt, die zudem als Brückenort für den Ost-West-Verkehr im Mittelland und als Kontrollpunkt und Umschlagsplatz für die damals sehr rege Reuss-Schifffahrt von grosser Bedeutung war, als zuverlässigen Partner zu wissen. Wie es scheint, gelang ihm das recht bald, denn schon 1293 führte die Bürgergemeinde von Mellingen nicht mehr den Johannesadler sondern den Habsburgerlöwen mit der Österreicher Binde über dem Schild in ihrem Siegel (s. Abb. 41042). Einzelne Bürger wurden von Albrecht privilegiert behandelt. So verlieh die Stadtherrschaft in den 1290jahren die Stadtmühle, die eindeutig auf der linken Reuss-Seite lag und im 14. Jahrhundert eingegangen sein muss, zu einem ausserordentlich günstigen Zins an einen Stadtbürger.
1295 erteilte Herzog Albrecht Hugo von Schänis, dem Mellinger Schultheissen zur Zeit der Stadtrechtserteilung, das Privileg der weiblichen Erbfolge. Es scheint offensichtlich, dass Albrecht sich damals bemühte, die Bürger für sich und die Herrschaft einzunehmen.
In diesem Zusammenhang dürfte denn auch die Stadtrechtserteilung zu sehen sein. So ist die Verleihung des vorteilhaften Stadtrechts von Winterthur möglicherweise unter anderem dadurch zu erklären. dass der Stadtherr versuchte, das nicht ganz linientreue Mellingen fest ins habsburgische Machtgefüge einzubinden.


Das Winterthurer Stadtrecht

Am 29. November verlieh Herzog Albrecht das 1264 und 1275 von seinem Vater Rudolf der Stadt Winterthur erteilte Stadtrecht, ohne dieses irgendwie einzuschränken. Darauf wandten sich die Behörden an Winterthur, ihnen die entsprechenden Rechtstexte mitzuteilen. Dieser Bitte kam Winterthur nach etwas mehr als einem Monat nach der Stadtrechtserteilung nach und listete in einer grossen Urkunde vom 13. Januar 1297 die von König Rudolf verliehenen Privilegien sowie das in Winterthur gültige Gewohnheitsrecht auf.

In der Folge wollen wir nun die wichtigsten Punkte dieses Dokuments ein wenig ausleuchten:
So wurde nun endlich das sicher schon ein halbes Jahrhundert gehandhabte Marktrecht schriftlich fixiert. Es erstreckte sich auf den gesamten Stadtbann und beinhaltete das Monopol des Marktverkehrs in einem bestimmten Umkreis, das Marktgericht und den Marktfrieden, das heisst den Zustand eines erhöhten Rechtsschutzes. Alle Güter im Stadtbann genossen ebenfalls die Privilegien des Marktrechtes.

Wohl der zentralste Artikel war derjenige, dass kein Bürger vor ein fremdes Gericht geladen werden durfte. Dieses sogenannte «ius de non evocando» konnten die Bürger vieler anderer Städte nicht beanspruchen. In Mellingen jedoch war ausser bei hochgerichtlichen Belangen, wie Mord oder Hochverrat, wo der Stadtherr urteilte, in allen anderen Fällen das Stadtgericht unter dem Vorsitz des Schultheissen zuständig. Und selbst der Stadtherr musste, falls er in Mellingen Recht geltend zu machen hatte, dieses vor städtischem Gericht beurteilen lassen.

Zwar wurden im 13./14. Jahrhundert die Schultheissen und die anderen städtischen Beamten vom Stadtherrn gewählt; doch genossen die Mellinger Bürger im Gegensatz zu vielen andern Städten das Mitspracherecht bei der Schultheissenwahl. Der Schultheiss durfte zudem laut Stadtrecht nicht Ritter sein. Damit wollte man verhindern, dass das Oberhaupt der Stadt durch seinen Vasallendienst nicht alIzu abhängig vom Stadtherrn wurde.
Auch das Vorrecht, dem Stadtherrn den sogenannten Todfall nicht entrichten zu müssen, war ein nicht selbstverständliches Privileg der Mellinger. Unter Todfall versteht man jene Abgabe, die beim Tode eines Bürgers die Hinterbliebenen zu entrichten hatten, vielfach in Form des schönsten Kleides oder des Besthauptes, das heisst des wertvollsten Stücks Vieh.
Auch in der Eheschliessung waren die Bürger völlig frei und konnten sich in jeder andern Stadt verheiraten oder einen Ehegatten einer andern Stadt an den Traualtar führen.
Den Stadtbewohnern war es zudem wie Edelleuten gestattet, Lehen zu empfangen, innezuhaben und auch weiter zu verleihen, ein untrügliches Zeichen des sozialen Aufstiegs insbesondere der städtischen Oberschicht.
Schliesslich folgen noch einige Bestimmungen über das Strafrecht:
Verwundete einer jemanden mit bewaffneter Hand, schuldete er dem Stadtherrn 5 Pfund Busse, oder es musste ihm die Hand abgehackt werden! Bei geringeren Straftaten war dem Herrn eine Busse von 3 Pfund zu bezahlen und der Frevler für ein Jahr aus der Stadt zu verbannen.

Recht ausführlich waren auch die Bestimmungen bezüglich des Eintreibens von Schulden und die Artikel über das Ehe- und Erbrecht. Dieses Obligationenrecht und Zivilgesetzbuch in Miniaturform hatte Winterthurer Gewohnheitsrecht zur Grundlage.

Wie schon erwähnt, durfte Mellingen das recht vorteilhafte, unveränderte Winterthurer Stadtrecht übernehmen und wurde in der sogenannten «Winterthurer Stadtrechtsfamilie» seiner Mutterstadt gleichgestellt. Ebenfalls das Winterthurer Stadtrecht erhielt Aarau. Brugg hatte das seinige von Aarau übernommen und Lenzburg schliesslich jenes von Brugg. Die frühere These, Baden gehöre auch zu dieser Rechtsgruppe, wird von der heutigen Wissenschaft angezweifelt. Doch fehlen bereits im Aarauer Stadtrecht wichtige Bestandteile der Mellinger Stadtsatzungen. wie der Beirat der Bürger bei der Schultheissenwahl, die Gewährleistung der freien Eheschliessung und die Befreiung vom Todfall.

Am Schluss der Urkunde von 1291 teiIen die Behörden von Winterthur den Mellingern mit, falls bezüglich gewisser Rechtsfragen noch Unklarheiten beständen, sei man gerne bereit, weitergehende Auskunft zu erteilen. Von diesem Angebot machte Mellingen denn auch mehrmals Gebrauch, so bereits um 1310, als Winterthur den Mellingern mitteilte, wie bei einem Totschlag, den ein Fremder an einem Fremden vornehme. zu verfahren sei.
1483 übermittelte Winterthur eine Zusammenstellung aller seiner Freiheiten. Rechte und Gewohnheiten. Auch noch 1767 wandte sich Mellingen in Fragen des Strafrechts an seine «rechtliche Mutter». Und als sich die Stadt 1783 von den bisherigen Grundlaqen der Handwerkerorganisation, den kirchlich orientierten Bruderschaften, abwandte und eine Zunftordnung einführen wollte, beschafften sich zuvor die Behörden die diesbezüglichen Satzungen Winterthurs. Daraus ersehen wir, wie sich Mellingen immer wieder nach dem Recht jener Stadt orientierte, von der es sein ursprüngliches Stadtrecht übernommen hatte.
Eine solche jahrhundertelange Rechtskontinuität mag uns heutige schnelllebige Menschen erstaunen, die es gar nicht so abwegig finden, wenn bei der Abstimmung über ein Gesetz bereits wieder über dessen nächste Revision diskutiert wird.

Mellingen - eine Rechtsoase

Jede Stadt war ein politisches Gebilde mit eigenem Recht und eigenständiger Verwaltung. Und es war nicht nur bedeutsam, welches Recht eine Stadt in ihrer Frühzeit vom Stadtherrn zugeteilt erhielt. Ebenso entscheidend war, ob es die Behörden einer Stadt verstanden, ihre Rechte kontinuierlich auszubauen. Und dies gelang Mellingen im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte in erstaunlichem Masse. Bereits im 14. Jahrhundert wählte nicht mehr der Stadtherr, sondern die Bürgerschaft und später der Rat den Schultheissen. Der Rat ergänzte sich selber. Auch die Pfarrwahl ging um 1415 an die Gemeinde über. Bereits um 1400 erlangte Mellingen auch den Blutbann, also das Recht, über Leben und Tod Fehlbarer zu entscheiden.

Neben Bremgarten und Aarau verstand es Mellingen als einzige Stadt auf heutigem Aargauer Boden, Gerichtsherrschaften zu erwerben, so 1364 den sogenannten Trostburger Twing, das heutige Gemeindegebiet rechts der Reuss, das erst 1798 endgültig der Gemeinde zugeschlagen wurde. Von 1415 bis 1495 war Mellingen auch Gerichtsherr in Stetten und von 1543 bis 1798 in Tägerig.

Eine Stadt war aber nicht nur eine politische Gemeinschaft mit eigenen Rechten. Die sicheren Mauern eigneten sich auch als Stätte gerichtlicher Verhandlungen und von Beurkundungen, welche die Stadt nichts angingen; diese stellte nur ihre Infrastruktur und nicht selten auch ihre Bürger als Zeugen und Besiegler zur Verfügung. Eine Stadt sorgte also nicht nur für Friede und Recht in den eigenen Gemarkungen, sondern trug als Gerichtsstätte und als Beurkundungsort viel zu Recht und Ordnung in einem weiten Umkreis bei. Wenn wir bedenken, dass im 13. Jahrhundert noch lange nicht jeder Rechtsakt schriftlich fixiert wurde bzw. ein Grossteil der entsprechenden Urkunden nicht mehr vorhanden ist, so beeindruckt es doch, dass zwischen 1242 und 1296 über ein Dutzend solcher Rechtsverfahren allein im kleinen Mellingen nachgewiesen werden können, wobei die Stadt der befreundeten Abtei Wettingen mehrmals ihre guten Dienste zur Verfügung stellte. Besonders markante Rechtsakte, die in unserem Städtchen besiegelt wurden, waren die Verpfändung der Steuern in Zürich durch König Rudolf im Jahre 1283 und die 1309 erfolgte Bestätigung der Rechte der Stadt Luzern durch Herzog Friedrich von Österreich.

Mellingen - Wirtschaftsmittelpunkt im untern Reusstal

Mellingen war durch seinen Markt, der auf der heutigen Hauptgasse abgehalten wurde, das wirtschaftliche Zentrum des unteren Reusstals. Hier konnten die städtischen Handwerker ihre Erzeugnisse absetzen und die Bauern der Umgebung ihre landwirtschaftlichen Produkte vermarkten. Und trotzdem konnte Mellingen nie zu einer nur annähernd bedeutenden Wirtschaftsmetropole heranwachsen. Es gilt der Grundsatz, dass sich eine Stadt nur dann wirtschaftlich richtig entwickeln könne, wenn im Umkreis von zehn Kilometern keine weitern Städte existierten. Doch in Mellingen störten diesbezüglich nicht weniger als vier Städte - Bremgarten, Lenzburg, Brugg und Baden - die «wirtschaftlichen Kreise». Aus dieser Sicht ist Mellingen als Fehlgründung zu bezeichnen. Deshalb zählte denn auch die Bevölkerung, die meist nebenbei noch etwas Landwirtschaft betrieb, bis in die Neuzeit wohl nie mehr als 400 Einwohner. Wirtschaftlich bedeutsam war der Brückenort Mellingen hingegen als Transitstadt und Etappenziel an einer der wichtigsten Ost-Weststrassen im schweizerischen Mittelland, was dem Gastgewerbe erhebliche Einnahmen bescherte.

Sehr rege war auch der Personen- und Warenverkehr auf der Reuss, auf der nicht zuletzt grosse Salzmengen herangeführt wurden. So dürfte der 1265 genannte
«C. genannt Salzemann» ein Salzhändler gewesen sein. 1301 treffen wir einen Johann, der Krämer war. Mellingen war auch eine bedeutende Mühlenstadt. Wohl alle drei Mühlen im Trostburgertwing dürften bereits zur Zeit der Stadtrechtserteilung existiert haben, ebenso die bis etwa 1300 nachgewiesene Stadtmühle auf der linken Reuss-Seite. So verwundert es nicht, dass zwischen 1265 und 1324 bereits drei Müller namentlich bekannt sind. Die Bedeutung der Mühlen- und Marktstadt Mellingen unterstreicht auch die Tatsache, dass zwischen 1275 und 1305 ein eigenes Mellinger Getreidemass in Gebrauch war. Aber auch aus anderen Berufsgattungen lassen sich zur Zeit der Stadtwerdung verschiedene Handwerker nachweisen: 1288 Ulrich den Maler,1306 Heinrich den Schmied und zwischen 1306 und 1322 mehrmals Johann den Kupferschmied. In Basel siedelte sich 1276 der Schreiner Johann von Mellingen an und wurde dort haushablich.

Mellingen - ein strategischer Stützpunkt

Die strategische Komponente war in Mellingen die bedeutsamste. Die Stadt war schon bei ihrer Entstehung hauptsächlich aus strategischen Überlegungen errichtet worden. Um 1240 präsentierten sich die Machtverhältnisse in unserer Gegend wie folgt: Kyburgische Verwaltungszentren waren Lenzburg und Baden mit ihren Burgen. Diese beiden Ortschaften waren nur durch eine relartiv schmale Landbrücke im Raume Mellingen verbunden. Im Norden sassen hingegen im Eigenamt und im Raum Brugg die Habsburger, ebenfalls im Süden in der Gegend von Bremgarten. So war es für die Kyburger fast ein Muss, zwischen Baden und Lenzburg an der direktesten Route an der Reuss, bevor sich diese in die Moränenwälle zwängt, eine Stadt mit Brücke zu bauen.
Verkehrstechnisch gesehen war der Standort Mellingen sehr gut gewählt: die Reuss ist hier schmal, die Ufer sind niedrig, so dass ein Brückenschlag leicht zu bewerkstelligen war. Hingegen lag die Stadt beinahe ungeschützt in der offenen Landschaft. Den einzigen natürlichen Schutz bot auf der einen Seite die Reuss, auf der andern vor allem das sumpfige Gelände gegen Wohlenschwil/Büblikon hin. Doch im Übrigen konnten topographische Gegebenheiten, wie in Baden die Klus, in Bremgarten die Lage in der Reuss-Schlaufe und in Brugg die Aareschlucht hier nicht genutzt werden. So war denn Mellingen, insbesondere als die Schusswaffen aufkamen. recht verletzlich. So verwundert es nicht, dass Mellingen schon im Alten Zürichkrieg (1436- 1450) und besonders in den Religionswirren immer wieder umkämpft war. Zwischen der Reformation und dem 2. Villmergerkrieg, das heisst. im Zeitraum zwischen 1528 und 1712, war Mellingen von den konfessionellen Parteien ein ganzes dutzend Mal besetzt.

Eine Stadt war aber nicht nur ein strategischer Stützpunkt im Wehrkonzept des Stadtherrn. Die Bürger der Städte stellten bei einem militärischen Auszug ihres Herren das zahlenmässig grösste Kontingent. So existiert eine alte Tradition, wonach die Mellinger Bürger 1278 für König Rudolf in der berühmten Schlacht auf dem Marchfeld gegen Ottokar von Böhmen gekämpft hätten. Ein Indiz für diese Tatsache könnte die 1940 im Garten der Druckerei Nüssli gefundene böhmische Münze aus der Mitte des 13. Jahrhunderts sein. Auch an der Schlacht am Hasenbühl bei Speyer am 2. Juli 1298 gegen den Widersacher Herzog Albrechts, Adolf von Nassau, sollen Mellinger dabei gewesen sein, ebenfalls an der Schlacht am Morgarten 1315.
Eindeutig urkundlich bezeugt ist, dass Mellinger 1320 Herzog Leopold von Österreich halfen, die Stadt Speyer zu belagern. Und auch 1386 marschierten im österreichischen Heer inmitten der zahlreichen Mannschaft aus den Aargauer Städten ein Kontingent Mellinger in die Schlacht von Sempach, wo 13 Bürger ihr Leben liessen.

Mellingen - ein sozio-kulturelles Zentrum

1262 wird in Mellingen erstmals ein Schulmeister erwähnt. Damit darf sich Mellingen rühmen, die am frühesten erwähnte weltliche Stadtschule auf heutigem Aargauer Boden zu besitzen. Kirchliche Stiftsschulen sind einzig bereits 1227 in Rheinfelden und 1242 in Zofingen nachgewiesen. Über das konkrete Bildungsangebot in unserer Stadt um 1300 lässt sich wenig Konkretes sagen. Einen gewissen Hinweis auf die Schulbildung geben uns sicher die acht Mellinger Kleriker, die wir bis 1327 feststellen können: 1270 weilte ein Conradus de Mellingen im Dominikanerkloster in Zürich. Im benachbarten Wettingen hielten sich zwischen 1256 und 1300 mit Rudger, Ulrich und Johann drei Mellinger Mönche auf. 1288 wirkte ein Konrad von Mellingen als Prior in St. Urban.
Von 1298 bis 1343 ist Lüthold von Mellingen im Stift Zofingen Chorherr, Kellner und Kustos. Von 1291 bis 1313 pastorierte der einheimische Peter Segesser unsere Pfarrei. Und schliesslich ist noch der Mellinger Bürger Hugo Bitterkrut zu erwähnen, dem 1327 Papst Johannes XII. in Avignon eine Seelsorgestelle auf einer Kollatur der Abtei Einsiedeln reservierte.

Wohl weniger die schulische Grundausbildung, sondern der soziale Status einer Bürgerin ermöglichte es mehreren Mellingerinnen in ein Kloster einzutreten. Bis 1329 kennen wir nicht weniger als 11 Nonnen aus Mellingen. Ein halbes Dutzend, nämlich Ita von Schänis, Katharina, Margret und Richinun Meyer sowie Agnes und Adelheid lberg, traten ins nahe Zisterzienserinnenkloster Gnadenthal ein. Verena und Margret von Schänis weilten in Selnau und Agnes und Katharina Segesser in Ötenbach, beides Klöster im Zürichbiet. Die Mellinger Bürgerin Mechtild von Baden hielt sich 1297 in der Beginengemeinschaft von Wettingen auf. Diese beinahe 20 Kleriker und Nonnen offenbaren eindrücklich, welch geistig-spirituelle Kraft die kleine Stadt an der Reuss ausströmte.

Aber nicht nur an den Geist wurde gedacht, sondern auch an das leibliche Wohl. Bereits 1313 gründete alt Schultheiss Hugo von Schänis am Kirchplatz das Heiliggeistspital und bedachte es mit zahlreichen ertragreichen Gütern. Dieses Spital diente vor allem den Betagten, aber auch Kranke, Hilf- und Heimatlose fanden hier Unterschlupf.

50 Jahre nach deren erster Erwähnung stand Mellingen als wohl funktionierender, wirtschaftlicher, militärischer und soziokultureller Mikrokosmos in der Landschaft des untern Reusstales, ein Gemeinwesen, das auf Leute aus der Innerschweiz, dem Zürichbiet, dem Gasterland und aus dem Gebiet des heutigen Aargaus eine starke Anziehungskraft ausübte, hier Bürger zu werden. eine Stadt, die aber auch als Rechts- und Verwaltungszentrum sowie als Schulort auf eine weitere Umgebung eine für die Kleinheit der Verhältnisse erstaunliche Ausstrahlungskraft ausübte.


Wichtigste Quellen und Literatur:
-Liebenau Theodor von Regesten zur Geschichte der Stadt Mellingen. ln: Argovia
14 (1884), S.95-205.
-Merz Walther. Stadtrecht von Mellingen. In: Die Rechtsquellen des Kantons
Aargau 1/6. Aarau l915.
-Rohr Heinrich. Die Stadt Mellingen im Mittelalter. In: Argovia 59 ( l947) sowie
Separatdruck.
Stöckli Rainer. 950 Jahre Kirche Mellingen. Mellingen I995. S. 9-19.




Bild-Nr.: 41040
Bild: Mellinger Städtlichronik 1996
Text: Mellinger Städtlichronik 1996 /Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1996

1242

1265 - Stadtsiegel von Mellingen

Stadtsiegel von Mellingen 1265:
Dieses älteste Stadtsiegel trägt die Umschrift: "s. CIVIVM DE MELLINGEN>: Siegel der Bürger von Mellingen. Siegelbild: Ein Adler mit Nimbus, Symbol von Johannes dem Evangelisten, dem damaligen Patron der Stadtkirche

(Siegelabguss aus dem Aargauischen Staatsarchiv, Foto: Aargauische Denkmalpflege).




Die Bürger von Mellingen treten also als politisch eigenständig handelndes
Gremium auf und führen bereits ein eigenes Siegel (s. Abb. Bei 41041). Interessanterweise wählte man als Siegelbild nicht etwa die Kyburger Löwen des ehemaligen Stadtherrn, sondern einen Adler mit Nimbus, Symbol des damaligen Kirchenpatrons Johannes' des Evangelisten. Das lässt aufhorchen.
1264 war nämlich mit Hartmann dem Älteren der letzte Kyburger des in unserer Gegend regierenden Stammes kinderlos gestorben.


Bild-Nr.: 41041
Bild: Mellinger Städtlichronik 1996 - Aargauische Denkmalpflege
Text: Mellinger Städtlichronik 1996
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1996

1265

1293 - Stadtsiegel von Mellingen

Stadtsiegel von Mellingen 1293:
Umschrift: "s. COMMUNITATIS CIUIUIMI I[N] MELLIG[EN]":
Siegel der Gemeinde der Bürger in Mellingen.
Dreieckiges Wappenschild, im Haupt die zweigeteilte österreichische Binde, darunter der Habsburger Löwe (Siegelabguss aus dem Aargauischen Staatsarchiv,
Foto: Aargauische Denkmalpflege).


Bild-Nr.: 41042
Bild: Mellinger Städtlichronik 1996, Aarg. Denkmalpflege
Text: Mellinger Städtlichronik 1996
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1996

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