1543 - Tägerig wird Gerichtsherrschaft von Mellingen, Rainer Stöckli

Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991

Vor 450 Jahren (1543): Tägerig wird Gerichtsherrschaft von Mellingen

Mellingen ist eine der wenigen Aargauer Städte, die es verstand, Gerichtsherrschaften zu erwerben. Die weitaus grösste Herrschaft besass seit dem Mittelalter die Stadt Bremgarten, die über die ausgedehnten Gebiete des gesamten Kelleramtes die niedere Gerichtsbarkeit ausübte. Die Stadt Aarau hatte von 1411 bis 1576 die niedergerichtlichen Rechte in Unterentfelden inne.
Dass sich aber ausgerechnet das kleine Mellingen drei Gerichtsherrschaften aneignen konnte, ist eigentlich erstaunlich und zeugt von einem gewissen Wagemut unserer Vorfahren. So erwarben diese bereits 1364 von den Herren von Trostberg den sogenannten Trostburger Twing, das heutige Gemeindegebiet rechts der Reuss. Diese Gerichtsherrschaft wurde erst 1798 endgültig mit der Gemeinde Mellingen verschmolzen. Von 1415 bis 1494 war die Stadt zudem Gerichtsherr von Stetten. Doch das Verhältnis zu diesem Dorf scheint nie ein inniges gewesen zu sein. Jedenfalls kaufte sich Stetten 1494 von Mellingen los, und die Dorfgenossen konnten seither ihren Untervogt, der die niedere Gerichtsbarkeit ausübte, selber bestimmen.

Am 25. Mai 1543 - also genau vor 450 Jahren - kaufte Mellingen von den unmündigen Erben des stark verschuldeten Mellinger Bürgers Hans Ulrich Segesser für 1667 Gulden die Gerichtsherrschaft Tägerig. In Anbetracht, dass die Stadt Mellingen beispielsweise 1560 bloss über Bareinnahmen von ca. 300 Gulden verfügte, muss man sich fragen, wie das Gemeinwesen diesen Ankauf verantworten konnte. Doch Mellingen musste für diesen Erwerb keinen Heller der Stadtkasse entnehmen. Dieser Kauf wurde vollumfänglich mit Geldern des Mellinger Heiliggeist-Spitals gedeckt. Diese am Kirchplatz gelegene soziale Institution verfügte damals etwa über gleichviel Einnahmen wie die Stadtkasse. So war es für das reich begüterte Spital ein leichtes, dieses Geld zur Verfügung zu stellen. Wir könnten diese «Investition» beinahe mit dem Finanzgebaren einer Pensionskasse vergleichen. Denn diese anderthalbtausend Gulden waren wohl angelegtes Geld, flossen doch durch den Kauf des Dorfes Tägerig auch wieder jährlich respektable Mittel ans Spital zurück, so etwa 2 Tonnen Korn und 1 Tonne Roggen sowie 45 Klafter Holz.

Laut der im Stadtarchiv liegenden Pergamenturkunde kaufte Mellingen 1543 «twing, gericht, bann, dorff und herrligkeit zu Tägerj», sowie 49 Stück «ewiger Bodengült auff allen Höfen». Neben den zuletzt genannten ansehnlichen Einkünften war bei diesem Kauf vor allem auch bedeutsam, dass ab 1643 bis 1798 immer ein Mellinger Bürger über die Tägliger Dorfgenossen zu Gericht
sass. Einzig für schwere Verbrechen (Blutgerichtsbarkeit) war der Landvogt der Freien Ämter zuständig. Inhaber der Gerichtsbarkeit war im Auftrag von
Schultheiss und Rat der sogenannte Twingherr, meist ein Mitglied des Mellinger Rats. In der Regel wurde alle zwei Jahre ein neuer Twingherr gewählt. Als Zeichen der «Oberherrlichkeit» begleiteten Schultheiss und Rat von Mellingen jeweils den neu ernannten Twingherrn hoch zu Ross nach Tägerig und präsentierten diesen den vollzählig erschienenen Dorfgenossen. Darauf wurden die Dorfbeamten gewählt, so der Dorfmeier, der Weibel und der Untervogt, der Aufsichts- und Vollzugsbeamte des Twingherren. Schliesslich hatten der Unterweibel sowie die Dorfgenossen dem Twingherrn einen Treueeid zu leisten.

Neben seiner Richtertätigkeit leitete der Twingherr auch Ganten und entschied bei Holz- und Weidnutzungsstreitigkeiten der Gemeindegenossen. Er besiegelte Kauf- und Schuldbriefe und auch andere Dokumente. Für diese seine Tätigkeit wurde der Twingherr beinahe fürstlich entschädigt. So musste ihm jeder, der in Tägerig haushablich war, jährlich 7 Luzerner Schilling und zur Fasnachtszeit ein Huhn abliefern. Im weitern bezog der Twingherr die Gerichtsgebühren, einen Grossteil der Gerichtsbussen und bei Holzverkäufen die Hälfte des Reingewinns. Zudem besass er im Gemeindebann das Jagdrecht.

Das Twinggericht tagte normalerweise zweimal im Jahr, nämlich im Frühling und im Herbst. Präsidiert wurde dieses, wie gesagt, vom Twingherrn, der als Zeichen seiner Macht einen Gerichtsstab in seiner Hand hielt; ihm zur Seite standen vier Richter, die man aus der Mitte der Dorfgemeinschaft wählte. Doch wurden im 16. und 17. Jahrhundert - entgegen den Dorfsatzungen - sehr viele Gerichtsfälle einfach vor Schultheiss und Rat in Mellingen abgeurteilt. Es würde zu weit führen, hier auf einzelne Gerichtfälle und die nicht seltenen Kompetenzkonflikte, die das Verhältnis zwischen Tägerig und Mellingen recht häufig trübten, einzugehen. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass die reichen Aktenbestände im Stadtarchiv erstaunlich viel Material zur Dorfgeschichte von Tägerig liefern. Manch andere Landgemeinde würde sich glücklich fühlen, auf derart umfangreiche schriftliche Zeugnisse zurückgreifen zu können: nicht zuletzt die Mellinger Gerichtsbücher sind eine fast unerschöpfliche Quelle, welche über das dörfliche Leben und die alteingesessenen Dorfgeschlechter in der Zeit zwischen 1580 und 1798 Auskunft geben.

Am 14. März 1798 beschlossen Kleiner und Grosser Rat von Mellingen ihre althergebrachte städtische Verfassung aufzugeben und sich zu einer Gemeinde im Sinne der Helvetik zu konstituieren. Gleichzeitig wurde der damalige Twingherr von Tägerig, Johann Kaspar Schwarz, beauftragt, zusammen mit Stadtschreiber Johann Georg Wassmer nach Tägerig zu gehen, um den Dorfgenossen anzuzeigen, dass die gnädigen Herren von Mellingen Tägerig aus «ihren Eiden entlasse auff die arth und weiss, wie andere hohe ständt und Municipal Städt Ihre Gerichtsangehörige auch entlasse». Damit war die «Egalité», eine der Grundmaximen der Französischen Revolution, sowohl für Tägerig als Mellingen Realität geworden.

Zusammenfassung der im Stadtarchiv liegenden Pergamentsurkunde vom 25. Mai 1543:
Wendel Sunnenberg, des grossen Rats zu Luzern, Jost von Meggen, Landvogt der grafschafft Baden, burgere der Stadt Lutzernn, Bernhart Sägeßer, der zyt vogt zu Klingnow, und Jos
Düntz, burger und würt zum Hirtzen zu Mellingen als Vogt des
Kindes von Hans Ulrich Segesser (die Urkunder), verkaufen nach
dem Tod Hans Ulrich Segessers, um deß mercklichen und grosßen
schuldhandels wegen gesagts unsers vettern seligen dem Schultheissen und Rat zu Mellingen zuhanden des Spitals Mellingen den
twing, gericht, bann, dorff und herrligkeit ze tägerj nechst by
Mellingen gelegen mit aller Gerechtigkeit, Eigenschaft, Höfen,
Zinsen etc., dem Gebot und Verbot und Gericht bis ans Malefitz,
49 Stück eewiger bodengüllt uff allen höfen. Preis: 1667 gulden zu
25 Baselplaphart. Twing und Gericht, ferner 2 Mütt Kernenzins ab
deß Cünen güt sind Lehen der Eidgenossen. Hans Ulrich Segessers Kindern bleibt der freie Rückkauf l0 Jahre lang vorbehalten.
Siegler: die Urkunder.

Aus: Urkunden und Briefe des Stadtarchivs Mellingen bis zum
Jahre 1550. Bearbeitet von Heinrich Rohr. Aargauer Urkunden XIX. Aarau 1960, S. 204, Nr. 524.



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Zusammenfassung der im Stadtarchiv liegenden Pergamentsurkunde vom 25. Mai 1543

"Wendel Sunnenberg, des grossen Rats zu Luzern, Jost von Meggen, Landvogt der grafschafft Baden, burgere der Stadt Lutzernn, Bernhart Sägeßer, der zyt vogt zu Klingnow, und Jos Düntz, burger und würt zum Hirtzen zuo Mellingen" als Vogt des Kindes von "Hans Ulrich Segesser" (die Urkunder), verkaufen nach dem Tod Hans Ulrich Segessers, um "deß mercklichen und grosßen schuldhandels wegen gesagts unsers vettern seligen" dem Schultheissen und Rat zu Mellingen zuhanden des Spitals Mellingen "den twing, gericht, bann, dorff und herrligkeit ze tägerj nechst by Mellingen gelegen" mit aller Gerechtigkeit, Eigenschaft, Höfen, Zinsen etc., dem Gebot und Verbot und Gericht bis ans Malefitz, 49 Stück eewiger bodengüllt uff allen höfen." Preis: "1667 gulden zu 25 Baselplaphart." Twing und Gericht, ferner 2 Mütt Kernenzins "ab deß Cuonen guot" sind Lehen der Eidgenossen. Hans Ulrich Segessers Kindern bleibt der freie Rückkauf l0 Jahre lang vorbehalten.
Siegler: die Urkunder.

Aus: Urkunden und Briefe des Stadtarchivs Mellingen bis zum Jahre 1550. Bearbeitet von Heinrich Rohr. Aargauer Urkunden XIX. Aarau 1960, S. 204, Nr. 524.




Bild-Nr.: 41015
Bild: Mellinger Städtlichronik 1993
Text: Mellinger Städtlichronik 1993 / Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1993

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