Um 1690 - Die Totenfahne des Mellinger Malers Johann Georg Widerkehr, Rainer Stöckli

Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991

Viele Jahrzehnte moderte diese rund 300 Jahre alte Fahne des Mellinger Barockmalers und langjährigen Schultheissen Johann Georg Widerkehr (1647-1724) auf dem Estrich der kath. Pfarrkirche dahin. Als dann vor 20 Jahren (1972) die Kirche restauriert wurde, entrümpelte man auch deren Dachboden. Und so landete denn dieses, der Kunstwelt bisher unbekannte Sakralwerk in der Schuttmulde. Es war dann Vater Nüssli, der das wertvolle Objekt im letzten Augenblick vor dem endgültigen Untergang bewahrte. Dessen Nachkommen haben nun letztes Jahr (1991) die arg mitgenommene Fahne beim Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft in Zürich restaurieren lassen und wären nicht abgeneigt, dieses einzigartige Kunstwerk dem Museum in Mellingen zu überlassen, allerdings erst zu einem Zeitpunkt, wenn das wertvolle Museumsgut in geeigneten Räumen präsentiert werden kann.

Wenn es auch den Restauratoren nicht mehr gelungen ist, alle Stellen der mit Oel auf Leinwand angebrachten Gemälde zu retten - auf Rekonstruktionen wurde bewusst verzichtet -, so ist diese Fahne insofern von besonderer Bedeutung, als es das einzige eindeutig nachweisbare Werk ist, das sich von Johann Georg Widerkehr auf Mellinger Boden erhalten hat. Einst stammte die ursprüngliche künstlerische Ausstattung der 1675 erbauten kath. Pfarrkirche fast ausschliesslich
von den Gebrüdern Hans Adam und Johann Wiederkehr: sämtliche Altäre mit Figurenschmuck, sowie die Kanzel von Hans Adam Widerkehr, die meisten Gemälde von seinem Bruder Johann Georg. Als die Gebrüder Huttle von Baden um 1840 das Kircheninnere in klassizistischem Stil umgestalteten, scheint fast die gesamte frühbarocke Ausstattung zerstört worden zu sein.
Jedenfalls sind sämtliche Gemälde Johann Georgs seither unauffindbar; vom Schnitzwerk Hans Adams haben sich in der Kirche einzig die beiden qualitätsvollen Johannesfiguren auf dem Hochaltar, die Wangen des Chorgestühls und das prächtige Hauptportal erhalten. Doch wenn wir Gemälde des äusserst produktiven Kirchenmalers Johann Georg Widerkehr in unserer Nähe bewundern wollen, so finden wir reiches Anschauungsmaterial in den Kirchen von Niederwil und Gnadenthal: In Niederwil sind sämtliche Altarbilder sein Werk, und in Gnadenthal beeindrucken uns die sechs überlebensgrossen Heiligengestalten auf der linken Seite des Schiffs.

Bereits 1676 schuf Johann Widerkehr für die Pfarrkirche Mellingen eine Kirchenfahne mit Christus am Oelberg und einer Kreuzigungs-Szene. Auch dieses Werk ist verschollen.

Die Totenfahne, die wir hier nun näher vorstellen möchten, dürfte aus der Zeit um 1690 stammen, sind doch mehrere Ähnlichkeiten mit den damals in Niederwil geschaffenen Gemälden feststellbar, so die typische Hell-dunkel-Malerei. Frappante Ähnlichkeit weist auch Gottvater auf der Vorderseite unserer Kirchenfahne mit jenem auf dem Hochaltarbild von Niederwil auf. Führen wir nun die Beschreibung der Totenfahne fort, so sehen wir links in fürbittender Pose vermutlich den heiligen Petrus in leuchtendrotem Gewand. Unter ihm liegt Eva, und im Hintergrund präsentiert sich eine Auferstehungsszene in recht eigenwilliger Darstellung.

Auf der Rückseite der Fahne thront zuoberst die Muttergottes, ihr zur linken erkennen wir die hl. Barbara oder Katharina und unter dieser Heiligenfigur einen Engel mit Richtschwert. Zuunterst schmachten die Armen Seelen im Fegfeuer.
Wenn wir heutige Menschen mit dieser endzeitlichen Schau, wie sie vor 300 Jahren, aber auch noch vor wenigen Jahrzehnten als gültig angenommen wurde, uns eher schwer tun, so gibt uns das Betrachten vorliegender Mellinger Totenfahne doch wieder einmal Gelegenheit, darüber nachzusinnen, ob es nicht doch eine höhere Gerechtigkeit gibt, ob Leben und Sterben nicht doch Glieder einer weiterführenden Kette unseres Daseins sind.

Die Totenfahne konnte an der Bücherausstellung des Kulturkreises
am 14. und 15.März 1992 besichtigt werden.

Heute wird sie im Ortsmuseum aufbewahrt.

Format der Fahne: ca. 80 x 60 cm


Bild-Nr.: 41005
Bild: Mellinger Städtlichronik 1992
Text: Mellinger Städtlichronik 1992 / Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1992

1690

Totenfahne Rückseite: Mutter Gottes, hl. Barbara oder Katharina, unten Fegefeuer.
Bei der Identifikation und der Beschreibung dieser Fahne war der Aargauische Denkmalpfleger Dr. Peter Felder behilflich.


Bild-Nr.: 42005.1
Bild: Mellinger Städtlichronik 1992
Text: Mellinger Städtlichronik 1992 / Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1992

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