1842 - Der Mellingerhandel - Rainer Stöckli

Geschichte > Aus Mellinger Städtlichroniken ab 1991

Im Juli 1642 rückte Mellingen urplötzlich ins Rampenlicht der eidgenössischen, ja gar der internationalen Politik. Wie so oft in der Geschichte war der auslösende Faktor auch hier eine belanglose Begebenheit: Der Mellinger Zöllner hatte - offenbar widerrechtlich - dem im Städtchen durchreisenden französischen Ambassador und dessen Begleitung den Zoll abverlangt, was den Zorn des hohen Herrn hervorrief und ein heftiges diplomatisches Nachspiel zur Folge hatte. Über diesen sogenannten «Mellingerhandel» finden sich daher heute noch in den Staatsarchiven von Aarau, Bern, Luzern und Zürich ganze Bündel von Akten.
Doch nun alles schön der Reihe nach: Bekanntlich fanden jahrhundertelang in Baden zahlreiche Tagsatzungen statt, an welchen von den Gesandten der eidgenössischen Orte die vielfältigen Fragen der Innenpolitik, aber auch internationale Belange erörtert wurden. Baden war deshalb bis 1712 wichtigster Parlamentssitz der Eidgenossenschaft. Auf diesen Tagsatzungen erschienen häufig auch Diplomaten ausländischer Mächte, allen voran der in Solothurn residierende französische Ambassador. Denn mit Frankreich, mit dem man jahrhundertelang verbündet war, pflegten die Orte besonders enge Beziehungen wirtschaftlicher und militärischer Art. Nicht zuletzt die Fremden Dienste der eidgenössischen Söldner in Frankreich lieferten dauernd Gesprächsstoff, war doch der französische König mit seinen Zahlungen fast ständig in Verzug.

Im Januar 1641 trat in Solothurn Jacques Le Fèvre de Caumartin (+1667) seinen Posten als Ambassador des französischen Königs Ludwig XIII. an. Bereits dessen Vater Louis Le Fèvre de Caumartin (1562-1623) weilte von 1605 bis 1607 in gleicher Mission in der Eidgenossenschaft. Jacques Le Fèvre besass nicht unbedingt das Naturell eines geborenen Diplomaten: Er galt als hochfahrend und wenig kompromissbereit. Im Juli 1642 weilte Caumartin einmal mehr an der Tagsatzung in Baden, um diesmal vor den eidgenössischen Orten die verheerenden Eingriffe seines Königs in der damals noch spanischen Freigrafschaft Burgund zu rechtfertigen. Im weitern versprach er, die ausstehenden Pensionen recht bald zu bezahlen. Gegen Ende des Monats reiste dann der Ambassador, noch bevor die Tagsatzung zu Ende gegangen war, mit seiner Gattin Genevieve de La Barre (1606-1693) und seinem Gefolge über Mellingen nach Solothurn zurück. Was dann hier in Mellingen geschah, wird in den Eidgenössischen Abschieden (=Tagsatzungsprotokolle) sehr ausführlich - aber auch widersprüchlich - geschildert.

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Lassen wir zuerst des Ambassadors Dolmetscher Philipp Wallier (1608-1654) und dessen Sekretär Michel Baron (1608-1702) zu Worte kommen; diese beiden waren vom wutentbrannten Ambassador an die immer noch tagende eidgenössische Konferenz nach Baden zurückgeschickt worden, um den Tagsatzungsgesandten von den «Schandtaten» der Mellinger zu berichten:
Schultheiss und Rat von Mellingen hätten «mit grosser ohnbescheidenheit» und «wider alle Gewohnheit» dem Ambassador und seiner Gattin den Zoll abgefordert. Doch Caumartin habe als Diplomat dieses Ansinnen abgelehnt. In der Folge habe Schultheiss Hans Ulrich Beye (+1651) mit «spötlichem geschrey» befohlen, die Tore zu schliessen und die Bürger dazu aufgerufen, die Waffen zu ergreifen.
Zudem habe sich der Zöllner Hans Strub (+1644) erfrecht, einem etwas später ankommenden französischen Lakaien einen Batzen abzunehmen und bemerkt, falls er noch mehr Geld auf sich trage, ihn auch noch seiner restlichen Barschaft zu entledigen. Nachdem der Ambassador wegen dieses Zollstreits während Stunden in Mellingen festsass, entschloss sich dieser, den Mellingern den Zoll doch zu bezahlen, da er, wie er später in einem Brief schrieb, nicht mehr gewillt war, sich länger mit diesen «petites gens sans raison et jugement» (geringe unvernünftige Leute) herumzubalgen. Soweit die Mellinger Geschehnisse aus französischer Sicht.

Auf diese Demarche Caumartins hin, der natürlich eine gebührende Bestrafung der Mellinger forderte, zitierte die Tagsatzung sogleich die Behörden unseres Städtchens vor ihre Session. Diese rechtfertigten sich folgendermassen: Sie hätten von Caumartin nicht den Zoll, sondern - gestützt auf ihre alten Freiheiten - nur das übliche Weggeld von 6 guten Batzen, welches für den Unterhalt der Brücke verwendet werde, fordern wollen. Diese Abgabe sei von den früheren Ambassadoren und «anderen derglichen herren» stets anstandslos bezahlt worden. Einzig Caumartins Vorgänger, Blaise Méliand (+1661), habe dieses Weggeld ebenfalls nicht entrichtet, dafür aber versprochen, anstatt dessen Kirchenzierden zu stiften. Allerdings muss hier festgehalten werden, dass die Mellinger mit der Bezeichnung Weggeld doch wohl eher eine juristische Haarspalterei betrieben, mit andern Worten, dass man Zoll und Weggeld gleichsetzen darf. Auf jeden Fall wurden in Mellingen die Einnahmen aus dem Zoll vornehmlich für den Brückenunterhalt verwendet. Die im Städtchen ausgebrochenen Unruhen begründete die Mellinger Delegation damit, dass ihr Stadtschreiber Rudolf Strub (+1661) vom Gesinde des Ambassadors unbotmässig behandelt und es in der Folge zu Handgreiflichkeiten gekommen sei. Deshalb hätten dann einzelne Bürger ihre Waffen ergriffen, und es seien die Tore geschlossen worden.

Wie sollten nun die eidgenössischen Orte auf diesen Streit reagieren? Sollten sie sich hinter ihre Untertanen, die sich auf ihre altverbrieften Rechte beriefen, stellen oder einen Konflikt mit dem mächtigen Frankreich riskieren? Erschwerend kam nämlich hinzu, dass Caumartin mitteilte, er habe den König über die ganze Affäre informiert und werde seine Funktionen als Ambassador solange einstellen, bis ihm gebührende Satisfaktion widerfahren sei. Deshalb blieb den Tagsatzungsherren nichts anderes übrig, als den Mellingern zu erklären, ihr Verhalten gegenüber Caumartin sei «wider aller Völckher recht». Aus diesem Grund wurden Schultheiss Beye, Stadtschreiber Strub und die beiden Zöllner dazu angehalten, nach Solothurn zu reisen, den Ambassador «nach gethanem fuessfahl» untertänig um Verzeihung zu bitten und diesem die 6 oder 12 abgenommenen Batzen wieder zurückzuerstatten. Den Mellingern gaben die Tagsatzungsgesandten einen Brief an Caumartin mit, in welchem sie ausführten, die Fehlbaren hätten mehr aus «ignoranz als (aus) bosheit» heraus gehandelt. Deshalb möge es der Ambassador bei dieser Entschuldigung bewenden lassen. Doch weit gefehlt! Caumartin weigerte sich hartnäckig, die Viererdelegation auch nur zu empfangen und anzuhören. In einem Schreiben vom 28. Juli teilte er den eidgenössischen Orten mit, dass er sich mit diesem Kniefall nicht begnüge und vom König weitere Instruktionen abwarte, was in dieser einer Majestätsbeleidigung gleichkommenden Angelegenheit zu tun sei.

Wohl recht geknickt wird Schultheiss Beye mit seinen drei Begleitern in den Aargau zurückgekehrt sein. So blieb denn den eidgenössischen Orten wohl oder übel nichts anderes übrig, als gegenüber den Mellingern straffere Saiten aufzuziehen. Um den unnachgiebigen Ambassador gnädig zu stimmen, liess man die vier eine Zeitlang im Gefängnis des Landvogteischlosses in Baden einkerkern und belegte Mellingen mit der massiven Busse von 400 Kronen: deren 100 mussten sofort bezahlt werden, der Rest auf Martini (11. November). In einem weitern Schreiben an Caumartin verliehen die Orte ihrer Hoffnung Ausdruck, der Ambassador gebe sich nun mit dieser drakonischen Strafe zufrieden, und auch Schultheiss und Rat von Solothurn wurden brieflich gebeten, Caumartin milde zu stimmen.

Doch Caumartin liess sich nicht so rasch erweichen. Eduard Rott, der sicher beste Kenner der Beziehungen zwischen der Schweiz und Frankreich in früheren Jahrhunderten, meint in einem seiner Werke, diese sture Haltung des Ambassadors habe nicht so sehr nur Mellingen gegolten, vielmehr habe der Diplomat den eidgenössischen Orten ganz allgemein eins auswischen wollen. Ein intensives diplomatisches Spiel begann: Vor allem die mächtigen Stände Zürich, Bern und Luzern setzten sich für ihr Untertanenstädtchen Mellingen ein. Noch in einem Brief vom 25. August schilderte Caumartin der Stadt Zürich erneut sehr ausführlich den ganzen Verlauf des Mellingerhandels und meinte, er hätte dem Zöllner wohl eine «gratification» (Geschenk) geben wollen, nicht aber den ZoII; diesen von ihm zu verlangen, habe Mellingen absolut kein Recht gehabt, noch viel weniger wegen dieser Meinungsverschiedenheiten zwei seiner Bediensteten zu verhaften sowie die Sänfte und die Kutsche der Ambassadorin aufzuhalten. Solange er aber vom König keine Anweisungen in dieser Angelegenheit erhalten habe, könne er diesen Fall nicht «ad acta» legen.

Insbesondere war es dann der Zürcher Unterschreiber Hans Kaspar Hirzel (1617-1691), der sich für die Mellinger gehörig ins Zeug legte. Nachdem die Mellinger Delegation auch bei einer zweiten Reise nach Solothurn beim Ambassador kein Pardon auswirken konnte, wurden die frustrierten Männer das dritte Mal von Unterschreiber Hirzel begleitet. Endlich zeigte sich Caumartin gnädig, empfing die Gesandtschaft und bat die in Mellingen regierenden Orte sogar, die dem Städtchen auferlegte Busse zu erlassen. Zürich, Bern und Luzern kamen dieser Bitte gerne nach, hätte doch die Bezahlung dieser 400 Kronen den Stadthaushalt gehörig belastet. Diese Busse entsprach rund 1600 Pfund, der damals üblichen Geldrechnungseinheit. Mit dieser Summe hätte man um 1640 die städtischen Beamten rund zwei Jahre besolden oder ca. 34 000 Liter Wein oder 18 000 Kilogramm Salz, das damals ein sehr teurer Artikel war, kaufen können.

Ganz freiwillig kam diese plötzliche Kehrtwendung Caumartins Anfang September 1642 jedoch nicht zustande: Denn auch der französische Hof fand, es sei unverhältnismässig, wegen einer derartigen Bagatelle die Beziehungen zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft, auf deren Söldner der König äusserst angewiesen war, so sehr zu belasten. In einer kategorischen Note forderte die französische Regierung ihren Vertreter in Solothurn auf, diesen Handel nun endgültig beizulegen.

Obwohl diese Affäre für Mellingen schliesslich glimpflich abgelaufen war, hielt man im Ratsprotokoll trotzdem fest, dass man künftig keinem Ambassador oder «sollichen hochen personen» mehr den ZoIl abverlangen wolle. Im weitern wurde festgehalten, dass man Schultheiss Beye und allen andern in diesen Handel involvierten Personen das volle Vertrauen ausspreche, hätten doch diese nur das Wohl der Stadt im Auge gehabt und trotzdem viel «schand und spott» ausstehen müssen. Einzig Ratsherr Felix Welti (+1656) wurde wegen seinen «schantlichen worten» gegenüber dem Ambassador getadelt und dazu verurteilt, die deswegen aufgelaufenen Kosten zu bezahlen.
Anfänglich war Caumartin insbesondere bei den katholischen Orten unbeliebt. Durch sein undiplomatisches Verhalten im Mellingerhandel verscherzte er sich aber auch die Sympathien der reformierten Orte, so dass er bis zu seiner Abberufung im Jahre 1648 nur noch Misserfolge verzeichnen konnte. Selbst als er wieder nach Frankreich zurückgekehrt war, intrigierte er gegen seinen Nachfolger Jean De la Barde (+1692). Das ganze Ränkespiel dirigierte Caumartin mit Hilfe seiner Anhänger in der Schweiz, den sogenannten Caumartinisten, von Paris aus. Dessen Absicht war es, seinen Nachfolger De la Barde in der Schweiz unbeliebt zu machen, um selber wieder an seine Stelle in Solothurn treten und sich für seine früheren Misserfolge revanchieren zu können. Doch der Mellingerhandel hatte Caumartin in der Eidgenossenschaft ein für alle Male «unmöglich» gemacht.


Quellen und Literatur:
- Rainer Stöckli. Geschichte der Stadt Mellingen von 1500 bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Fribourg 1979, S. 116-117 (in Anmerkung 33 sind bereits die wesentlichen Quellen und die dazugehörige Literatur aufgeführt).
- Peter Hoegger. Die Kunstdenkmäler des Kantons Aargau. Band VI: Der Bezirk Baden I, S. 393, 395.
- Aargauisches Staatsarchiv Aarau Nr. 2306, f 263-264; Nr. 2454, 167f, 241f, 244f (bei Stöckli noch nicht verwendet).


Bild-Nr.: 41004
Bild: Mellinger Städtlichronik 1992
Text: Mellinger Städtlichronik 1992 / Rainer Stöckli
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1992

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