Wie verhielt man sich in Mellingen in früheren Jahrhunderten gegenüber Fremden?

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Asylanten, Einwanderer, Juden und Heiden in Mellingen Teil 1

Foto: Pestglocke oder Sebastiansglocke beim Kirchturm.
Die Glocke erinnert an die Pestepidemie von 1629. Umschrift lateinisch-> «Heiliger Sebastian, bewahre uns vor der Pest»

Die Unterbringung und das Zusammenleben mit Asylanten verbreitet heute grosse Unsicherheit.
Sind wir uns aber bewusst, dass unsere Vorfahren auch Einwanderer waren?

Die Einwanderung vieler ausländischer Arbeitskräfte wird teilweise mit Unbehagen wahrgenommen. Zudem stehen wir vermutlich heute vor einer neuen Völkerwanderung: Die Bewohner vieler südlicher, wirtschaftlich schwacher und politisch instabiler Länder drängen als Asylanten oder Migranten in den
reichen Norden. Sind wir uns aber auch bewusst, dass unsere Vorfahren vor rund anderthalb Jahrtausenden ebenfalls Einwanderer waren und die gallo-römische Bevölkerung zum Teil verdrängten? Die Germanen stiessen immer mehr nach Süden vor. Ein gewisser Mello liess sich laut Namensforscher Beat Zehnder mit seiner Sippe an der Reuss nieder und legte den Grundstein zu Mellingen. Die Leute des Haccilo siedelten sich unterhalb des Maiengrüns an: Es entstand das
Dorf Hägglingen.
Welche Reaktionen diese Landnahme der Germanen in unserer Gegend auslösten, können wir nur erahnen, da entsprechende Quellen fehlen. Besser orientiert sind wir über die letzten Jahrhunderte. Das Verhalten gegenüber Flüchtlingen, Fremden und Andersartigen war je nach Situation sehr
unterschiedlich.

Ungaren, Tschechen, ltaliener ...
Viele unserer älteren Generation können sich noch rege daran erinnern, mit welchem Wohlwollen Flüchtlinge aus Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 in Zusammenhang mit der Niederschlagung ihrer Freiheitskämpfe durch die Sowjetarmee in der Schweiz aufgenommen wurden. Recht misstrauisch betrachtete man aber in den 1950er- und 1960er-Jahren die Einwanderung vieler italienischer Arbeitskräfte. Und heute? Manche ihrer Nachkommen nehmen derzeit wichtige Positionen in Wirtschaft, Kultur und Politik ein. Und ohne viele Arbeiter aus dem südlichen Nachbarland hätten die grossen Bahnbauvorhaben der Schweiz in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gar nicht bewältigt werden können.
Mit diesen Überlegungen ist keineswegs beabsichtigt, die heutigen Probleme herunterzuspielen. Aber die ganze nördliche Welt steht meines Erachtens vor einer riesigen Herausforderung:
Denn wenn es nicht gelingt, auch den Menschen der südlichen Hemisphäre zu mehr Wohlstand und Nahrung zu verhelfen, wird der Druck aus dem Süden kaum aufzuhalten sein. Nach diesen mehr allgemein gehaltenen Gedanken, einige Beispiele aus dem Mellingen des 17. Jahrhunderts.

Aus der Not eine Tugend gemacht
1629 raffte in Mellingen eine Pestepidemie fast die Hälfte der Bevölkerung dahin. Damals herrschte in
Europa der Dreissigiährige Krieg (1618-1648), vor allem ein Konflikt u. a. zwischen Frankreich, Schweden und den protestantischen Reichsfürsten einerseits und dem Deutschen Reich, Österreich und Spanien -andererseits. Glücklicherweise wurde die Eidgenossenschaft nur unbedeutend in dieses europäische Völkerringen hineingezogen. Doch die Kämpfe tobten in den 1630er-Jahren auch am Hochrhein nahe der Schweizergrenze. Deshalb flüchteten viele katholische Bewohner des
Schwarzwaldes und des" damals noch österreichischen Fricktals in unser Land.


So hielten sich in der Zeit zwischen 1634 und 1645 mehrere Dutzend Flüchtlinge aus diesem
Raum in unserem Städtchen auf und halfen mit, das 1629 stark geschwundene «Menschenreservoir»
wieder etwas aufzufüllen. Man bot ihnen auch an, beispielsweise als Schmiede, Maurer, Schuhmacher und Hutmacher in unserer Stadt zu wirken, um die Wirtschaft der Gemeinde wieder anzukurbeln. Zwischen 1634 und 1645 vermählten sich in der Stadtkirche 21 Paare, von denen ein Partner, meistens aber beide aus dem Fricktal oder Süddeutschland stammten. Bemerkenswert ist auch, dass diese Einwanderer in den Protokollen nicht Flüchtlinge sondern «Gäste» genannt
wurden.

Rainer Stöckli


Bild-Nr.: 39831
Bild: Viktor Zimmermann
Text: Rainer Stöckli
Copyright: Rainer Stöckli/Viktor Zimmermann

2012

Asylanten, Einwanderer, Juden und Heiden in Mellingen Teil 2

Foto: Portal am Iberg von 1633: Das von Komtur Heinrich Schenk von Castell in Auftrag gegebene Portal zeigt zwischen der Jahrzahl links das Wappen des Deutschen Ordens und rechts jenes des Komturs.

Die Unterbringung und das Zusammenleben mit Asylanten verbreitet heute grosse Unsicherheit. Sind wir uns aber bewusst, dass unsere Vorfahren auch Einwanderer waren?

Im ersten Teil dieser Untersuchung (Reussbote vom Freitag, 16. November) war vor allem zuerst von den Ungaren, Tschechen und Italienern die Rede, welche sich im letzten Jahrhundert in der Schweiz ansiedelten. Darauf wandten wir uns aber dem Mellingen im Dreissigjährigen Krieg (1618-1648) zu, in welchem nach der Pestepidemie in unserem Städtchen 1629 im nächstfolgenden Jahrzehnt viele Kriegsvertriebene aus Süddeutschland und dem Fricktal Unterschlupf fanden. Auch die nächsten
Abschnitte beleuchten diese Zeitperiode.

Der prominenteste Asylant war zu dieser Zeit der Deutschordenskomtur Heinrich Schenk von Castell.
Dieser stand dem Deutschordenshaus Beuggen bei Badisch-Rheinfelden vor. Die Kommende, welche 1602 das Schlösschen Iberg in Mellingen erworben hatte, war im Dreissigjährigen Krieg mehrmals stark umkämpft. Deshalb verlegte der Komtur seinen Sitz zwischen 1632 bis 1634 mehrmals nach Mellingen. In der Zeit von 1638 bis 1646 residierte er ständig hier. Er nahm am Iberg verschiedene Umbau ten vor. Davon zeugt noch heute das Portal links des Treppenturms mit den
Wappen des Deutschordens und des Komturs aus dem Jahr 1633.



Juden in Mellingen
Im letzten Drittel des Dreissigjährigen Kriegs wohnten in Mellingen auch immer ein paar Juden, die von Süddeutschland in die Eidgenossenschaft geflüchtet waren. Ihnen gegenüber verhielt man sich nicht sehr zuvorkommend. Die Aufenthaltsbewilligung wurde ihnen jeweils nur ein halbes oder ganzes Jahr erteilt. Zudem mussten sich diese, welche vor allem als Geld-, Tuch- und Pferdehändler ihre
Geschäfte betrieben, die Aufenthaltsbewilligung mit hohen Geldsummen erkaufen. Juden bezahlten in Mellingen drei- bis vier Mal so viel Zoll als Christen. Wie wenig zimperlich die Mellinger mit Juden umsprangen, zeigte sich auch, wenn man diese bis zum Kriegsende 1648 häufig vor die Gerichtsschranken der Stadt zerrte. Nach einer Periode relativer Freizügigkeit beschlossen aber Kleiner und Grosser Rat im Jahre 1666, keine Juden mehr aufzunehmen. Lakonisch meinte man:
(Will sy dussen seigen, sollent sy dussen verbliben. Später allerdings konnten die Juden auch in Mellingen wieder ihrem Gewerbe nachgehen. Doch als Bürger nahm man sie noch Jahrhunderte
Iang nicht auf.

Die Heiden
Total ablehnend verhielt man sich gegenüber den Zigeunern oder Fahrenden, die man gemeinhin «Heiden» nannte. In diesen Kriegszeiten hielten sich auch in unserem Raum vermehrt Fahrende auf. Sie durften aber nicht in der Stadt Wohnsitz nehmen. Bei einer Busse von 50 Gulden war es den
Bürgern verboten, die Zigeuner in ihren Häusern zu bewirten. Speise und Trank durfte ihnen nur beim Durchzug oder ausserhalb der Mauern gereicht werden. 1645 wurde sogar gänzlich untersagt, den «Heiden» und Huren Fleisch und Brot abzugeben.
Wie wir sehen, waren Behörden und Bevölkerung auch vor über 350 Jahren den Fremden teilweise sehr zugetan; andere Bevölkerungsgruppen behandelten sie aber sehr restriktiv und ablehnend. Im Dreissigiährigen Krieg drängte viel fremdes Volk in unsere Gegend und brachte grosse Unruhe in die Eidgenossenschaft. Diese Flüchtlingsströme waren nicht immer Ieicht zu bewältigen und bereiteten oft Unbehagen. Gleich wie heute, wo uns die guten Arbeitsbedingungen in der Schweiz, aber auch die Migrationsbewegungen aus vielen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens in eine heikle Lage versetzen. Diese Situation stellt uns vor fast unlösbare Entscheidungen: Welche Fremden haben Anrecht, in unserem Land eine zweite Heimat oder vorübergehend Aufenthalt zu finden?

Rainer Stöckli


Bild-Nr.: 39831.1
Bild: Viktor Zimmermann
Text: Rainer Stöckli
Copyright: Rainer Stöckli/Viktor Zimmermann

2012