950 Jahre Kirchort Mellingen, Jaques Keller Pfarrer
Die Anfänge
1045 wurde Mellingens Kirche zusammen mit anderen Kirchen und Gütern in einer kaiserlichen Urkunde über die Besitze des Stiftes Schänis erstmals genannt. Diese Nennung weist aber nicht auf das Baujahr hin. Die Kirche hatte schon bestanden. Archäologische Untersuchungen fehlen. Erst nach der Gründung der Stadt, 1247, ist ein Pfarrer erwähnt: Hartlieb von Wile, ihm folgten 64 weitere. Ihre durchschnittliche Anwesenheit von 11 ½ Jahren ist beachtlich. Die damalige Kirche war dem Evangelisten Johannes geweiht (ältestes Stadtsiegel von 1265). Der Wandel zum Doppelpatrozinium und schliesslich zu Johannes d. T. ist nicht genau datierbar.
Vor der Reformation
Die Kirche nahm über sechs Jahrhunderte eine hervorragende Stelle im Leben der Bürgerschaft und ihres Rates ein. Selbst mit ihrem Bau trug sie zur Befestigung des Städtchens bei. Für die Armen und Kranken sorgte sie mit Spital und Siechenhaus, der Jugend gab sie schon ab Ende 14. Jahrhundert erste Ausbildung. Gottesdienste und Bittgänge waren für die Bürger durch den Rat verordnet. Mellingen gehörte zum Bistum Konstanz und war dem Dekanat Mellingen-Brugg zugeordnet. Wollte ein Geistlicher Mellingens Pfarreipfrund besetzen, wählte ihn vermutlich die Gesamtgemeinde, nach der Reformation nur noch der Kleine und Grosse Rat der Stadt. Anschliessend hatte sich der Bewerber dem Landvogt in Baden zu präsentieren. Dieser stellte ihn der Kurie in Konstanz vor, damit er als neuer Pfrundinhaber vom Bischof eingesetzt würde.
Die Reformation und die Folgezeit
Mellingen, geschlossen nach allen Seiten, blieb doch eine offene Stadt. Über die Reuss zum Rhein, auf der Strasse kürzeste Verbindung von Zürich nach Bern, damit ein kleines Städtchen auf dem Weg von den Schwaben zu den Welschen. Da blieben auch manch neue Gedanken, Gerüchte und Kampfschriften zwischen Badener und Lenzburger Tor liegen, auch neue Glaubensideen eines Luthers, Zwinglis und anderer. Der Reformationsgedanke fiel in Mellingen auf fruchtbaren Boden. Drei Gründe mögen die Entscheidung gefördert haben: der sittliche Zerfall, der auch bei den Geistlichen nicht schadlos vorüberging, ihre oft dürftige Ausbildung (Ausnahmen gab es zu jener Zeit) und schliesslich Mellingens opportunistisches Denken, in einem Verbund mit Zürich und Bern besserer Zukunft als mit den V Alten Orten der Innerschweiz entgegenzugehen. Am 27. März 1529 wurde durch die Gemeindeversammlung die Einführung der Reformation beschlossen. Messen wurden abgeschafft, Bilder verbrannt und Altäre entfernt. Einzig die Frühmesserkaplanei der Segesser blieb erhalten. Drei Jahre später, nach dem Kappeler-Krieg, forderten die V Alten Orte die Rekatholisierung, entsprechend der Augsburger Gesetze Cuius Regio - Eius Religio - wessen das Land, dessen die Religion. Ende Oktober 1532 wurde die Kirche neu konsekriert. Es folgten noch Jahrzehnte mancher Empfindlichkeiten, Reaktionen und Anfeindungen von hüben und drüben. Doch allmählich schlossen sich die Wunden und kirchliches Leben blühte wieder auf. In Mellingens Geschichte erscheint Muris bedeutendster Abt, Johann Jodok Singisen; die Rosenkranzbruderschaft wurde gegründet; von der Renovation der Kirche und von neuen Glocken wird berichtet. Da brach 1629 die Pest aus, 186 Tote, die Hälfte der Stadtbevölkerung: aus allen Schichten - auch Schultheiss, Pfarrer, Kaplan und Lehrer. Und dennoch, das Leben ging weiter. Gerade in dieser schweren Zeit wurde die Johanneskirche mit manchen Schnitz- und Goldarbeiten auswärtiger und einheimischer Künstler bereichert. Dazu gehören auch die prächtigen Kabinettscheiben in der Kirche, gestiftet von verschiedenen Ständen und Klöstern.
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Vom Barock zur Neuordnung
Das 17. und 18. Jh. sind geprägt von barocker Lebensfreude, emsiger Bautätigkeit und illustren Persönlichkeiten. Der feierlichen Translation der römischen Hilaria Reliquie 1653 folgte 22 Jahre später der Neubau der Stadtkirche. In nur 54 Tagen stand der Rohbau des um 90 Grad gedrehten Gotteshauses da. Die Bürger konnten nun vom Platz her eintreten; auch sollte die Fassade mit der schönen Pforte von Mellingens Kunstsinn Zeugnis geben. Zeichen der Versöhnung und guter Nachbarschaft zu Mellingen sind bei diesem Bau die vielen Schenkungen, auch aus reformierten Orten. Diesem Neubau folgte 1736 die Antoniuskapelle. Barockes Leben, Bild- und Prozessionsfreudigkeit, mit Prachtentfaltung und Donnerpredigten erfüllten das Städtchen - doch immer seiner Grösse und Mitteln angepasst. Es war eine Zeit kirchlicher Berufe und Würdenträger, gefördert von Rat und Bürgerschaft: Edmund Schnyder (1606-1677) Abt in St. Urban; ebenda Abt Augustin Müller (1712-1168); Ulrich Meyer (1647-1694), Abt in Wettingen.
Im Übergang zur Neuordnung steht die hochgeachtete Priorin von Gnadenthal, Maria Bernarda Hümbelin (1755-1847).
19. und 20. Jahrhundert
Sie sind geprägt vom Umsturz politischer, sozialer und kirchlichen Strukturen. Ablösung der «Freien Herrschaft Baden» vom «Canton de Baden» bis zur Staatswerdung des Aargaus. Mellingens Pfarrei mittendrin. 1827 erlosch das Bistum Konstanz, Mellingen wurde dem Bistum Basel integriert. Der Gleichheitsgedanke der Französischen Revolution wich zunehmend einer neuen Oberschicht, auch in Mellingen, seinem Rat und besonders spürbar in der Regierung des neuen Kantons. Ein schwieriger Weg bis zur Bundesverfassung von 1848. Davor die bewusste Provokation der Katholiken mit den 14 Artikeln von 1834 (u. a. Bistum, Priesterseminar und Klöster betreffend). In Mellingen fand 1840 zu deren Beseitigung eine Volksversammlung der Katholiken statt. Die 1841 von radikal-liberaler Seite (Augustin Keller) erfolgte Klosteraufhebung musste auch Mellingen, seinen benachbarten Klöstern verbunden, als schwere Verletzung empfinden. Bis anhin war in Mellingen die Verwaltung von Kirche und Staat gemeinsam. Auf wiederholtes Drängen der Regierung, fand 1868 (Heiligabend) die erste Mellinger Kirchenpflegesitzung statt. Diese Trennung nach vielen gemeinsamen Jahrhunderten scheint beiderseits schwer gefallen zu sein. Doch die Zeit war reif, aus dem verträumten Kleinstadtleben zu erwachen. An die Stelle des Handwerks und der Heimarbeit trat Fabrikarbeit, anstelle Handarbeit nun Maschinen; damit auch Ausweitung des Wohngebietes, des Arbeitsortes; neue Probleme - Arbeitersorgen. Neue Seelsorgeaufgaben. Dazu vergrösserte sich die Pfarrei mit Mellingen-Dorf, das bis anhin zur Pfarrei Rohrdorf gehörte.
Und wieder neue Wogen bedrängten die Kirche im Kulturkampf 1872 (I. Vaticanum-Unfehlbarkeitsdogma). Bischof Lachat wurde Firm- und Visitationstätigkeit in den Bistumskantonen, ausser Luzern, entzogen. Von 1865-1886 fanden in Mellingen keine Firmungen statt, anstelle dessen gab es sogenannte «Firmzüge» zu Lachat ins Luzerner Exil. In dieser Zeit wurden hier Standesvereine und Jugendvereine gegründet, zur Bestärkung des Glaubens und Abwehr antikirchlicher Strömungen. Unser Gotteshaus erfuhr in diesen beiden Jahrhunderten etliche Renovationen, Veränderungen und Rückveränderungen - auch das Stilempfinden war kurzlebig geworden. Die Katholiken lernten allmählich mit evangelisch-reformierten Christen und andern Gläubigen zu leben. Zwei Weltkriege am Rand der Heimat brachten Neubesinnung, Mässigung und Offenheit im politischen und parteilichen Gezänk. Besonders nach dem II. Vaticanum, das mit seiner Liturgiereform den Kirchenraum vorteilhaft schonte, begann oekumenisches Denken und bei vielen Christen eine tief verwurzelte Sehnsucht nach innerer Heimat und gelebtem Glauben.
Möge die Johanneskirche von Mellingen auch in alle Zukunft die Menschen Gottes Nähe erfahren und uns in seinem Namen dem Nächsten begegnen lassen.
Jaques Keller
Bild-Nr.: 11810
Bild: Mellinger Städtlichronik 1995, Bild 1995
Text: Mellinger Städtlichronik 1995, Jaques Keller
Copyright: Mellinger Städtlichronik 1995
1995